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Das Gottesmahl

Das Gottesmahl

Titel: Das Gottesmahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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Knochen des Kapitäns. Er
zückte den Monte Alban und genehmigte sich einen zweiten
tüchtigen Zug aus der Flasche, dann fegte er den Unrat von der
Altarplatte und erstieg sie. Ein weiterer Schluck. Er streckte sich
aus, legte sich auf den Rücken. Noch einen Schluck. Anno
Postdomini Eins durfte endlich jeder nach Herzenslust saufen.
    Anthony gähnte. Ihm sanken die Lider herab. Lemuria, Mu,
Vineta, Thule, Atlantis: Als Handelsseemann hatte man schon von einem
Dutzend im Meer versunkener Reiche schwafeln hören.
Ausschließlich nach der Position der Valparaíso beurteilt – nördlich von Madeira, östlich der
Azoren, nahe der Säulen des Herkules –, kam am
wahrscheinlichsten Atlantis in Frage, aber er wußte schon
jetzt, daß bloße Geografie nicht hinreichte, um ihn zur
Umbenennung der nach seinem Vater getauften Insel zu veranlassen.
    Er schrak durch einen Zuruf aus dem Schlaf – ein
kraftvoll-lautes »Anthony!« – und dachte im ersten
Augenblick, der Zecher, der Gourmand, der Opiumesser oder der
Tierfreund wäre zum Leben erwacht und riefe ihn. Sonnenschein
umschmeichelte den Tempel mit weichem Licht, heiße Strahlen
stachen durch den Nebel herab. Der Kapitän öffnete die
Baseballjacke.
    »Anthony! Anthony!«
    Als er sich vom Altar schwang, merkte er, daß er Ockhams
Predigerstimme hörte. »Pater!«
    In FermiLab-Sweatshirt und Panamahut stand der Priester im
Schatten des Soderers und schnaufte. Er wirkte benommen, geradezu
betäubt, genau wie es jemandem seiner Profession wohl ergehen
mußte, sobald er sich mit den konkreten Einzelheiten der
Zoophilie konfrontiert sah.
    »Wir sind auf dem Corpus Dei gewesen, als in den Ohren
die Knochen brachen«, erzählte Ockham. »Das
gerauenhafteste Geräusch, das ich je gehört habe. Ein
Paukenschlag der Apokalypse. Irgendwie haben wir’s noch bis auf
die Juan Fernández geschafft.«
    »Freut mich, Sie zu sehen, Thomas«, sagte Anthony,
berührte den Arm des Geistlichen mit der leeren
Monte-Alban-Flasche. Wenn die Crew sich in Dekadenz suhlte und sich
vom Meeresgrund steinerne Götter erhoben, war es gut, jemanden
bei sich zu heben, der die Bergpredigt auswendig kannte. »Alles
geht in die Binsen, aber da sind Sie, der Rettungsanker.«
    »Gestern habe ich nackt in Gottes Nabel getanzt.«
    Anthony schauderte zusammen und schluckte. »So?«
    »Mit Schwester Miriam.« Der Priester packte das
Sweatshirt am Kragenbund und zog sich die verschwitzte Baumwolle
über den Kopf vom Oberkörper. »War aber bloß ein
Ausrutscher. Unterm Bann des Leichnams. Jetzt habe ich mich wieder
voll in der Hand. Ganz bestimmt.«
    »Pater, was spielt sich hier eigentlich ab? Ich kann’s
nicht fassen, daß da auf einmal diese Insel
auftaucht.«
    »Miriam und ich haben das Problem beim Abendessen
diskutiert.«
    »Und ist Ihnen dazu was eingefallen?«
    »Ja, aber es ist eine ziemlich bizarre Erklärung.
Möchten Sie sie hören? Ich vermute, Sie halten sich
hinsichtlich der sogenannten Chaos-Theorie nicht auf dem
laufenden…?«
    »Nee.«
    »Jedenfalls ist einer ihrer Schlüsselbegriffen der
›Chaotische Attraktor‹, das Phänomen, das offenbar
Turbulenzen und anderen scheinbar zufälligen Vorgängen
zugrundeliegt. Vielleicht hat die Valparaíso, während sie mit der Fracht nach Norden fuhr, eine
gänzlich einzigartige Turbulenzenvariante verursacht und dadurch
der Leichnam – ich betone, das ist nur eine Vermutung – zu
einem Chaotischen Attraktor geworden ist. Der springende Punkt ist
folgendes: Naturgemäß könnte die alte, heidnische
Ordnung durch einen Attraktor dieser Art ganz besonders stark
energetisiert worden sein. Verstehen Sie? Als der Corpus Dei über die untergegangene Heidenwelt hinwegschwamm, wurde sie
infolge ihres immanenten Drangs nach Reetablierung heraufgezogen.
Können Sie meinen Darlegungen folgen?«
    »Soll das heißen, Gottes Leichnam hätte wie ein
Magnet gewirkt?«
    »Genau. Er hat sich als metaphysischer Magnet ausgewirkt,
unnatürlichen Nebel vom Himmel herab- und eine heidnische
Zivilisation vom Meeresgrund heraufgeholt.«
    »Und warum ist so was noch nicht im Golf von Guinea
passiert?«
    »Wahrscheinlich liegt im Golf von Guinea keine versunkene
Heidenkultur auf dem Meeresboden.«
    »Soviel ich weiß, soll hier irgendwo Atlantis
abgesoffen sein.«
    »Im Gegensatz zu Platon bin ich der ziemlich festen
Überzeugung, daß es Atlantis nie gegeben hat.«
    »Dann bleiben wir bei der Bezeichnung
Van-Horne-Insel.«
    Sie schlenderten zum Standbild des Gourmands.

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