Das Gottesmahl
Karamosows, nicht wahr?« fragte
Miriam. »Wenn es keinen Gott gibt, ist alles erlaubt.«
Der Geistliche furchte die Stirn. »Da fällt einem
zwangsläufig auch Schopenhauer ein. Ohne ein Höchstes Wesen
wird das Dasein öde und sinnlos. Ich hoffe, statt dessen hatte
Kant recht… Ich hoffe, die Menschen haben irgendein angeborenes
ethisches Gespür. Mir ist, als könnte ich mich erinnern,
daß er mit regelrechter Schwärmerei etwas vom
›bestirnten Himmel über mir, und das moralische Gesetz in
mir‹ geschrieben hat.«
»Ja, in der Kritik der praktischen Vernunft«, bestätigte Miriam. »Ich bin völlig deiner Meinung,
Tom. Die Deserteure, wir alle, wir müssen Kants Glaubenssprung
nachvollziehen – seinen Sprung aus dem Glauben, sollte
ich wohl sagen. Wir müssen auf unser kongenitales Gewissen
zurückgreifen. Sonst sind wir erledigt.«
Thomas und Miriam, stellte Cassie bei sich fest, genossen ein
gemeinsames Einverständnis und eine gegenseitige Zuneigung
– man konnte es sogar ein leidenschaftliches Verhältnis
nennen –, um die viele Ehepaare sie beneidet hätten.
»Diesen Sprung habe ich schon vor Jahren gemacht«, merkte
Cassie an. »Man braucht sich nur einmal den zweiten Teil von Die Zehn Gebote offenen Auges anzuschauen, und es wird klar,
daß Gott und Güte unvereinbar sind.«
»Nun je, so weit würde ich nicht gehen«, sagte
Miriam.
»Ich sehr wohl«, entgegnete Cassie spitz.
»Das dachte ich mir«, meinte Pater Thomas trocken.
»Kant war doch kein Atheist«, erklärte die
Nonne und fletschte die prachtvollen Zähne zu einem grimmigen
Lächeln.
Im weiteren Verlauf des Tages dachte Cassie – es war
praktisch unvermeidlich – immer wieder an Gott ohne
Tränen, ihre einen Akt umfassende Demontage des
Monumentalfilms Die Zehn Gebote. Gott verstand nichts von
Güte, das Gute wußte nichts von Gott – alles war
dermaßen offensichtlich, daß jeder überall geradezu
mit der Nase daran stieß, und trotzdem waren drei Viertel der
Leute auf diesem Schiff dem Bann des Leichnams verfallen. Zum
Verrücktwerden.
In der Nacht trug ein Traum sie von der Insel fort, über den
Atlantik zurück nach New York City, wo sie im
Horizont-Autorentheater in der ersten Reihe saß und der
Premiere von Gott ohne Tränen beiwohnte. Auf der
Bühne beleuchtete ein Spot den Moses, der am Toten Meer zu
Füßen einer Sanddüne kauerte und Fragen eines nicht
sichtbaren Interviewers beantwortete, der alles über ›die
geheimnisumwitterte ungekürzte Fassung des DeMillschen
Filmmeisterwerks‹ zu wissen wünschte.
Das Publikum umfaßte ausschließlich Offiziere und
Besatzung der Valparaíso. Links neben Cassie saß
Joe Spicer und tätschelte ein Schoßtier, das abwechselnd
wie eine Wanderratte und wie eine Winkerkrabbe aussah. An ihrer
rechten Seite: Dolores Haycox, die systematisch Knoten in eine
liberische Seeschlange machte. Hinter ihr: Bud Ramsey, der ein
Dacrontau wie eine Zigarre rauchte.
Moses ersteigt die Kuppe der Düne und betatscht die
Gesetzestafeln, die wie Mickey-Maus-Ohren aus dem Sand ragen.
INTERVIEWER: Ist es wahr, daß DeMilles ursprüngliche
Fassung eine Länge von sieben Stunden hatte?
MOSES: Hm-hmm. Die Verleiher bestanden darauf, daß er sie
auf vier Stunden zusammenschneidet. (Hält Fäustevoll
Filmstreifen in die Höhe.) Während der vergangenen zehn
Jahre ist es mir gelungen, Teile und Ausschnitte fast jeder
herausgekürzten Szene aufzutreiben.
INTERVIEWER: Zum Beispiel?
MOSES: Die Plagen in Ägypten. In der veröffentlichen
Version kommen in Blut verwandeltes Wasser, Hagel und Finsternis vor,
aber die wirklich interessanten Heimsuchungen sind weggelassen
worden.
Das Scheinwerferlicht fällt auf zwei ältere
ägyptische Arbeiterinnen, Baketamon und Nellifer, von Beruf
Töpferinnen.
Sie holen Lehm vom Ufer des Nils.
INTEVIEWER: Erzählt mir von den Fröschen.
BAKETAMON: Wir wußten nicht, ob wir weinen oder lachen
sollten.
NELLIFER: Wenn man die Schublade mit der Unterwäsche aufzog, flupp, da hüpfte einem gleich so ein kleines
Scheißvieh ins Gesicht.
BAKETAMON: Es soll keiner behaupten, Gott hätte keinen
Humor.
INTERVIEWER: Welche Plage war am schlimmsten?
BAKETAMON: Die Beulenpest, würde ich sagen.
NELLIFER: Was, die Beulen, das ist doch wohl ’n Witz?! Die
Heuschrecken waren viel schlimmer als die Beulenpest.
BAKETAMON: Die Mücken waren auch reichlich fies.
NELLIFER: Und die Fliegen.
BAKETAMON: Und erst die Viehseuche.
NELLIFER: Und der Tod der Erstgeborenen. Das war
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