Das Grab des Herkules
Aufjaulen. Nina musterte ihn tadelnd.
»Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte Sophia, deren lupenreiner englischer Akzent mit tonloser Stimme vorgebracht wurde.
Yuen stellte seiner Gattin die anderen vor, zögerte jedoch einen Moment, als er zu Chase gelangte. »Ich glaube, wir kennen uns noch nicht, Mr. …?«
»Chase. Eddie Chase.«
»Okay … Eddie. Und das ist meine …«
»Wir kennen uns bereits.«
Diesmal jaulte Nina auf. »Wie bitte?«
Sophias Gesichtsausdruck veränderte sich. Ein zögerliches Lächeln blühte auf, als sie die rechte Hand hob. »Hallo, Eddie. Es … ist schon eine ganze Weile her.«
»Ja.« Chase erwiderte weder ihr Lächeln, noch ergriff er ihre Hand. Nach einer Weile ließ sie die Hand sinken, und ihr Lächeln wich Enttäuschung. »Also, wie ich sehe, geht es dir gut.« Chase wandte sich an Yuen. »Viel Glück mit Ihrer Ehe, Dick . Entschuldigen Sie mich.« Er wandte sich zur Tür.
Sophia berührte ihn seitlich am Jackett. Er blieb stehen, ohne den Kopf zu wenden. »Eddie, ich …«
Chase verharrte einen Moment, dann stolzierte er von dannen.
»Eddie!«, sagte Nina, die keine Ahnung hatte, worum es eigentlich ging. Chase hatte sich irgendwie verändert, seitdem er mit dieser ominösen Sophia zusammengetroffen war – seine Stimme klang anders, seine Haltung gerader –, doch sie wurde nicht schlau daraus. »Wo willst du hin?«
»Ich muss pinkeln «, fauchte er sie über die Schulter hinweg an und verschwand durch die Tür.
Nina blickte ihm nach, die Wangen vor Verlegenheit gerötet. »Es … es tut mir wirklich sehr leid«, stammelte sie und nahm einen Schluck Champagner, um sich zu beruhigen.
Yuen zuckte mit den Schultern. »Schon gut, es ist doch nichts passiert.« Er wandte sich Sophia zu. Nina erwartete, dass er sie nach Chase fragen werde, doch stattdessen sagte er: »Alles in Ordnung?«
Sie nickte.
»Gut. Übrigens, Dr. Wilde – darf ich Sie Nina nennen?«
Nina nickte.
»Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen. Ich finde Ihre Arbeit faszinierend. Ich weiß, Sie haben da ein paar Entdeckungen gemacht, die die IBAK einstweilen noch unter Verschluss halten möchte, aber ich würde wirklich gern wissen, welchen alten Wundern Sie sich als Nächstes zuwenden wollen!«
Nina zögerte mit der Antwort. Als eines von vielen Aufsichtsratsmitgliedern, die für die IBAK internationale Kontakte herstellen und das politische Getriebe an Orten schmieren sollten, wo archäologische Projekte im Auftrag der UN möglicherweise mit Misstrauen betrachtet wurden, wusste Yuen vielleicht nicht genau, weshalb die IBAK gegründet worden war; bestenfalls war sein Wissen lückenhaft. Die vollständigen Details bezüglich der Entdeckung von Atlantis waren nur einer sehr kleinen Anzahl von Personen bekannt. Andererseits hatte er angedeutet, er wisse Bescheid …
Nina beschloss, auf Nummer sicher zu gehen und jede Erwähnung von Atlantis zu vermeiden. So gern sie ihre Entdeckung vor aller Welt enthüllt hätte, war ihr doch bewusst, dass sie damit warten musste, bis die IBAK und die dahinterstehenden Regierungen den Zeitpunkt für gekommen hielten. Hätte man der Öffentlichkeit jetzt mitgeteilt, wie knapp fünf Milliarden Menschen der Auslöschung durch eine Virenseuche entgangen waren, hätte das eine Menge Probleme gegeben.
Ihr aktuelles Projekt war viel weniger kontrovers. Und wenn sie in diesem Fall die Wahrheit über den angeblichen Mythos enthüllte, würde sie jetzt gleich die Lorbeeren dafür einheimsen …
»Also«, setzte sie an, »eigentlich suche ich nach dem Grab des Herkules.«
Dalton hob eine Braue. »Sie meinen den Helden aus den griechischen Mythen?«
»Genau.«
»Verzeihen Sie die Nachfrage«, sagte Dalton mit sarkastischem Unterton, »aber weshalb sollte ein Mythos ein Grab haben?«
»Es ist tatsächlich so«, sagte Sophia, »dass an vielen Orten Gestalten der griechischen Mythologie ein Grab haben.«
Die Männer schauten sie an, als erstaunte es sie, dass Sophia etwas zu einem Fachgespräch beizutragen hatte. »Ob tatsächlich jemand darin bestattet wurde«, fuhr sie fort, »war für die Griechen zweitrangig – die Gräber dienten vor allem als Andachtsstätte, als Ort des Gedenkens.«
»Das stimmt«, sagte Nina, die ein wenig das Gefühl hatte, man habe ihr die Schau gestohlen. »Sie sind gut informiert, Lady … soll ich Sie Lady Blackwood nennen, oder …?«
»Sophia, bitte.«
»›Lady‹ nennen wir sie, um den Pöbel zu beeindrucken«, sagte
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