Das Grab im Moor
keine Vögel.
So still wie in einem Grab, dachte Lilly und ein Schauer lief ihr den Rücken hinunter.
Nur der Kleine spielte unbekümmert weiter. Lilly gab auf ihn acht, während sie gleichzeitig versuchte, den Pfad nicht aus den Augen zu verlieren. Plötzlich sah sie hinter einem Busch etwas aufblitzen.
Sie beugte sich hinunter und schob einen Zweig beiseite. Eine Silbermünze! Und direkt daneben gleich noch eine! Auf einmal schien das Glück auf ihrer Seite zu sein.
Das war zwar nicht der Schatz, aber auch ein paar Silbermünzen würden ihr und ihrer Familie ganz neue Möglichkeiten verschaffen. Aufgeregt suchte sie weiter, wühlte im Moos und zwischen Grasbüscheln herum, hob Steine an – vielleicht dort drüben bei dem Felsen, oder dort, hinter der Erle, oder . . .
Und während sie suchte, wurde es, ohne dass sie es bemerkte, langsam dunkel. Erst als sie einen falschen Schritt machte und bis zu den Knien im Wasser stand, wurde ihr bewusst, wie viel Zeit schon vergangen war. Doch da war es zu spät! Der Pfad war nicht mehr zu erkennen.
Und schlimmer noch als das: auch ihr kleiner Bruder war nicht mehr zu sehen.
Sie rief nach ihm, aber jeder Laut, der über ihre Lippen kam, wurde sogleich von der Nacht verschluckt.
Ich muss mich beruhigen, dachte sie. Muss einen klaren Kopf bewahren. Sie stützte sich mit der Hand gegen einen Baum und ließ den Blick über den Sumpf schweifen, als plötzlich ein stechender Schmerz in ihren Finger fuhr und ein Tier raschelnd den Stamm hinaufhuschte. Ein Eichhörnchen. Sie musste es mit ihrer Hand erschreckt haben. Kein Wunder, dass es sie gebissen hatte.
Aber das Eichhörnchen verschwand nicht oben im Baum, sondern blieb einen halben Meter höher sitzen und . . . Lilly konnte es kaum glauben, aber es fauchte. Mit seinen kohlschwarzen Knopfaugen funkelte es Lilly böse an. Dann kletterte es fauchend nach unten und schnappte wieder nach ihr. Erschrocken machte Lilly einen Schritt zurück. Es war weniger der Angriff, der ihr Angst einjagte, als vielmehr das Blut, ihr Blut, das an der Schnauze des Eichhörnchens glänzte.
Wieder rief sie verzweifelt, und da endlich regte sich etwas. Ein schwaches Licht tauchte nicht weit entfernt von ihr auf.
Da sind Mutter und Vater, dachte Lilly. Vielleicht ist das Brüderchen bei ihnen. Aber schon leuchtete ein neues Licht in der anderen Richtung auf, dann noch eines. Ein Flüstern hob an.
›Komm‹, klang es leise wie ein Windhauch von einem der Lichter. ›Ich kann dir geben, wonach du suchst.‹
›Komm hierher‹, säuselte ein anderes. ›Das hier ist der rechte Weg für den, der sucht.‹
›Ich weiß, was du haben willst‹, wisperte ein drittes. ›Folge mir.‹
Aber wenn Lilly eines sicher wusste, dann, dass man sich vor Irrlichtern in Acht nehmen musste.
Zur gleichen Zeit hob das Heulen der Wölfe an. Lauschte sie aufmerksam, konnte sie sogar ihr Knurren hören.
Wenn sie doch nur den Pfad wiederfinden könnte! Dann wäre sie in Sicherheit, denn dort war zumindest der Boden fest.
Lilly machte ein paar zögerliche Schritte in die Richtung, in der sie den Weg vermutete, aber dort wurden die Grasbüschel nur immer kleiner und nasser. Seltsam. In der anderen Richtung stieß sie auf Bäume, die gerade eben ganz gewiss noch nicht da gewesen waren. Es war, als veränderte sich das Moor mit jedem Schritt, den sie tat. Wenn sie sich umdrehte oder einen Schritt nach hinten machte, so kam sie nie an dieselbe Stelle zurück. Sie fühlte sich wie in einem Labyrinth, in dem sich die Gänge verschoben, sowie sie sie aus den Augen ließ. Alles wirkte so bedrohlich. Die Vögel waren verstummt, die anderen Tiere verrückt und aggressiv und sogar das Moor selbst schien sie in die Irre führen zu wollen.
Und irgendwo dort in der Dunkelheit wartete ihr kleiner Bruder auf sie.
Lilly hielt sich die Ohren zu, um das lockende Flüstern der Irrlichter und das unheimliche Heulen der Wölfe nicht mehr hören zu müssen. Aber es gelang ihr nicht, alle Laute auszuschließen. Der Ruf ihres kleinen Bruders drang zum Glück zu ihr durch.
Er schallte von einer kleinen Lichtung herüber, die in der Dunkelheit auffällig leuchtete.
Lilly vergaß jede Vorsicht, sie rannte auf das Licht zu, sprang von Büschel zu Büschel.
›Lilly‹, rief der Bruder. ›Lilly, beeil dich!‹
In seiner Stimme lag keine Angst, nur Verwunderung, als wolle er ihr etwas zeigen.
Als Lilly näher kam, erkannte sie, dass die Lichtung in Wahrheit ein kleiner See
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