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Das graue distinguierte Leichentuch: Roman

Titel: Das graue distinguierte Leichentuch: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Slesar
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Anzeichen eines organischen Leidens zutage gefördert, und Dave mußte sich mit dem Gedanken abfinden, ein Opfer der sogenannten Managerkrankheit zu sein. Ein Pillenschlucker zu werden, war ihm in der Seele zuwider, aber er hatte nun in seiner Schreibtischlade ein Fläschchen mit Meprobomat liegen, und jeden Nachmittag nahm er gewissenhaft eine Beruhigungsdosis zu sich. »Sie sollten es selber einmal versuchen«, sagte er liebenswürdig zu Jörgensen. »Vielleicht werden Sie dann die Anschnauzer ruhiger hinnehmen.«
    »Sie hätte die Pillen nötig«, erwiderte Jörgensen ziemlich mürrisch.
    Dave holte tief Atem und drehte den Knauf. Wie immer war es verblüffend, hinter der nüchternen Geschäftsfassade das Äquivalent eines Salons aus dem achtzehnten Jahrhundert anzutreffen. Als er eintrat, blickte die Gräfin, die hinter einem goldverzierten napoleonischen Schreibtisch saß, das Haar mit einem schwarzen Turban umwickelt, stirnrunzelnd auf.
    »Aha – das Genie!« sagte sie verächtlich.
    »Guten Morgen, Frau Gräfin.« Er lächelte heiter und ging über den dicken Teppich zur Wandgarderobe. Sorgfältig hängte er den Mantel auf und näherte sich dann mit seiner Aktenmappe dem Schreibtisch. Sie musterte ihn mit finsterem Blick, aber Dave tat so, als merke er es nicht.
    »Ich habe die Auskünfte besorgt, von denen ich Ihnen erzählte. Es sieht recht vielversprechend aus. Diese lokalen Kochkunstausstellungen haben ein kleines, aber fanatisch anhängliches Stammpublikum. Nun gibt es in Cincinnati –«
    »David!«
    »Ja, Frau Gräfin?«
    »Schauen Sie mich an.«
    Er sah sie an. Sie war eine recht eindrucksvolle Erscheinung, aber nicht etwa dank ihren körperlichen Vorzügen. Die waren der Zeit zum Opfer gefallen. Ihr Geheimnis war die Farbgebung. Sie benützte die Farben, um den Blick von den Falten im Gesicht und den Mängeln ihrer Figur abzulenken. Dem schwarzen Turban entsprach ein schwarzes Kleid. Um den Hals hatte sie eine vierfache Korallenkette. Grellweiß hob sich die Haut von dem scharlachroten Lippenstift und dem meerblauen Lidschatten ab.
    »Sie sehen sehr hübsch aus«, sagte Dave.
    »Ich will keine Komplimente hören, David. Ich will nur die Wahrheit hören. Vorigen Freitag behaupteten Sie, Sie würden an diesem Wochenende sehr viel Arbeit zu erledigen haben. Stimmt das?«
    »Ja, na ja, das habe ich gesagt.«
    »Deshalb konnten Sie natürlich meine Einladung übers Wochenende nicht annehmen?«
    Dave merkte, daß die Gräfin mehr wußte, als er für möglich gehalten hätte. Er versuchte es auf die freimütige Tour.
    »Im Ernst, Frau Gräfin – ich hatte damit gerechnet, beschäftigt zu sein. Aber am Freitag gegen Abend ging alles in Ordnung.«
    »Egal.« Sie hob die beringte Hand. »Wenn Ihnen der Gedanke an ein Wochenende in meiner Gesellschaft nicht paßt, David, brauchen Sie es nur zu sagen. Dann werde ich Sie nie wieder mit meinen Einladungen belästigen.«
    »Aber Frau Gräfin! Margaret –«
    »Bitte, setzen Sie Ihre geschäftlichen Ausführungen fort.«
    »Aber ich möchte mich doch einladen lassen. Wirklich! Wie wäre es mit dem nächsten Wochenende? Da werde ich bestimmt frei sein.«
    »Ja. Bis etwas Besseres auftaucht.«
    »Frau Gräfin, ich schwöre –«
    »Egal – darüber sprechen wir nachher.« Sie lehnte sich zurück und fuchtelte mit der Zigarettenspitze. »Nun wollen wir uns mit Cincinnati beschäftigen...«:
    Eine Stunde nach seiner Rückkehr ins Büro rief Homer Hagertys schöne Sekretärin Celia Daves Sekretärin Louise an. Gemeinsam gelang es ihnen, Dave beizubringen, daß der Generaldirektor ihn zu sprechen wünsche.
    Bevor Dave sich nach oben begab, holte er das Fläschchen mit dem Meprobomat aus der Schreibtischschublade. Er ging zum Wasserkühler und schluckte eine der kleinen weißen Tabletten.
    Nach dem Erlebnis auf dem Bahnsteig und der Begegnung mit der verärgerten Gräfin hatte er eine Beruhigung nötig.
    Vor der Tür des Generaldirektors begrüßte Celia ihn mit einem warmen Lächeln – wärmer als sonst – und ersuchte ihn, ohne weiteres einzutreten.
    Hagertys Begrüßung war nicht weniger herzlich. Der Generaldirektor kam hinter dem Schreibtisch hervor und setzte sich zu ihm aufs Sofa.
    Homer Hagerty sah aus wie einer der zwei Dutzend weißhaarigen Charakterdarsteller, die in den Hollywoodfilmen weise und geistreiche Typen spielen. Er sah gut aus, aber sein Aussehen erweckte eher väterliche als romantische Vorstellungen. Seine Stimme hätte der Kanzel einer

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