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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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werden.
     
    Irgendwann ging es nicht mehr höher. Jonas sah Gebetsfahnen und leere Sauerstoffflaschen. Er wusste sofort, wo er war, obwohl er es fast nicht glauben konnte.
    Er stand auf dem Gipfel des Mount Everest.
    Dieses Gefühl: Festhalten. Mach die Augen zu. Mach sie wieder auf. Da sein. Da sein. Merk dir diesen Moment und nimm ihn mit hinunter. Gib ihn ihr. Sonst niemandem.
    Die Sonne sank. Der Himmel war in dieser Höhe schon beinahe schwarz. Tief unter ihm schmiegte sich ein Wolkenmeer um das Bergmassiv, auf dessen Spitze er nun im immer heftigeren Wind die Kamera auspackte und ein paar Fotos von sich und dem Panorama machte.
    Wie oft hatte er sich diesen Punkt vorgestellt. Diese zwei oder drei Quadratmeter. Er war als Kind zu Hause gesessen und hatte von diesem Gipfel gelesen, und das, woran er gedacht hatte, war der Ort, an dem er sich nun befand, in diesem einen Augenblick, jetzt und jetzt und jetzt. Das hier hatte es damals schon gegeben. Es hatte sich nicht verändert, es hatte nur gewartet, auch auf ihn, und würde weiterhin warten. Warten und warten und sein, während der Rest der Welt lebte und kam und verging. Er würde zu Hause in Tokio sein und an das hier denken, und das hier würde genauso aussehen wie jetzt und sein wie jetzt und warten wie jetzt, warten und warten und sein.
    Er steckte die Kamera weg und zog die Plastiktüte mit Mikes Haaren hervor.
    Er hatte keine Ahnung, warum ihm in diesem Moment jener Tag einfiel, an dem er Mike gegen das Affe verteidigt hatte und von diesem grün und blau geprügelt worden war. Er sah den kleinen Mike vor sich, so wie er sich selbst plötzlich als Kind sah. Er sah sich als Junge vor Mike in Piccos Garten sitzen, sie schauten einander an, Jonas machte eine Geste, Mike ahmte sie nach, Mike machte eine Geste, Jonas ahmte sie nach. Jonas saß vor seinem Bruder und dachte: Das bin auch ich. Genau so sehe ich aus. Und ich bin es auch, ich bin es.
    Mit den Handschuhen konnte er die Tüte nicht öffnen, doch es gelang ihm, sie zu zerreißen. Er streute Mikes Haare aus und bedeckte sie sofort mit Schnee, damit sie der Wind nicht vom Gipfel blies.
    Mein Kleiner, dachte er, hoffentlich hast du’s gut.
    Ganz oben.
    Jahre und Minuten.
     
    Hey, hörte er.
    Ja?
    Das hast du ganz gut hingekriegt.
    Gar nicht übel, wie?
    Aber reiß dich jetzt zusammen.
    Okay, ich geb mir Mühe.
    Wie wäre es mit Absteigen?
    Bin ja schon unterwegs.
    Sieh mal, von der Nordseite kommen Menschen.
    Stimmt. Also nichts wie weg von hier.
     
    Der Hillary-Step. Abwärts vielleicht sogar schwerer zu überwinden. Doch Jonas schaffte es. Er war der müdeste Mensch der Welt, doch er schaffte es. Und obwohl er der müdeste Mensch der Welt war, ging er weiter.
    Wenn er darüber nachdachte, was ihm bevorstand, schwand allerdings alle Zuversicht, denn ihm war in einer selten klaren Minute bewusst geworden, dass er den Gipfel nicht nur etwas zu spät, sondern Stunden zu spät erreicht hatte und dass nicht die geringste Aussicht bestand, vor Einbruch der Dunkelheit ins Lager zurückzukehren. Im Dunkeln konnte er nicht gehen, doch der Abstieg würde bald ohnehin unmöglich werden, denn jetzt erkannte Jonas auch die Gewitterwolken unter sich. Es waren nicht viele, aber sie würden genügen.
    Das sieht nicht gut aus, wie? dachte er.
    Nicht denken, hörte er. Gehen.
     
    Den Weg zum Südgipfel legte Jonas außerhalb seines Bewusstseins zurück. Wo er sich in dieser Zeit aufhielt, wusste er nicht, doch am Südgipfel tauchte er wieder auf und wechselte seine Sauerstoffflasche gegen eine volle. Als er damit fertig war, wusste er plötzlich, es war vorbei.
    Er wollte nur noch schlafen.
    Er war schon dabei, sich einen Platz zu suchen, an dem es ihm gefiel, an dem es ihm behaglich genug erschien, um eine längere Zeitspanne zu verbringen, als er fühlte, wie ihn sein Begleiter weitertrieb. Ihn am Rücken fasste und anschob.
    Du gehst da jetzt runter.
    Ich schaffe das nicht.
    Doch, du schaffst das.
    Nein. Es wird dunkel. Im Dunkeln kann ich nicht gehen. Und das Gewitter wartet auch auf mich.
    Ich weiß. Aber hier stirbst du, und das wäre doch schade. Wir brauchen einen besseren Platz.
    Gibt’s hier Gästezimmer mit Heizung?
    Noch immer diese dummen Witze. Geh weiter. Los. Geh.
     
    Jonas setzte einen Fuß vor den anderen, bis er an das Ende eines Fixseils kam und das nächste nirgends zu finden war.
    Und was jetzt?
    Im Kegel seiner Stirnlampe sah er einen Felsen. Dahinter sollte er ein wenig Schutz vor dem Wind

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