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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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»lasst ihn eben gehen! Ist immerhin sein Leben!«
    »Nimm wenigstens dieses Funkgerät mit!« bat Lobsang.
    Jonas steckte es ein und ließ sich beschreiben, wo auf dem Südgipfel das Sauerstoffdepot des Teams zu finden war. Kaum hatte er ein paar Meter zurückgelegt, rauschte es im Funkgerät, und er hörte Hadans tiefe Stimme, die aufgeregter klang als sonst.
    »Jonas, bitte kommen! Jonas! Melde dich auf der Stelle!«
    Jonas schob das Funkgerät tief in die Tasche. Nicht tief genug, um Hadans Rufen zu entgehen.
    »Jonas, du drehst sofort um! Du kommst da runter! Jetzt! Ich weiß, dass du mich hörst! Dreh um! Ich kann dir keinen Sherpa nachschicken, ich trage diesen Menschen gegenüber Verantwortung, und außerdem brauche ich sie hier unten! Jonas! Erinnerst du dich, was ich gesagt habe? Da oben will ich mich mit dir nicht ärgern müssen, habe ich gesagt. Du drehst jetzt um!«
    Jonas schaltete das Gerät aus und steckte es weg.
    Nicht denken.
    Nicht funken.
    Gehen.
     
    Es wurde still in seinem Kopf.

56
     
    Es dauerte einige Zeit, bis er begriff, wo er war. Das musste der Südgipfel sein. Sauerstoffdepots. Alte, verschlissene Rucksäcke, die jemand wer weiß wann zurückgelassen hatte. Eine Leiche in einem Plastiksack, nicht zu erkennen, ob Mann oder Frau. Noch eine. Noch eine.
    Jonas machte sich nicht die Mühe, das Depot seiner Expedition zu suchen, sondern nahm das erstbeste. Es gelang ihm, die Flasche zu wechseln, auch wenn er sich wegen seiner Rippe, die von Stunde zu Stunde mehr schmerzte, kaum bücken konnte.
    Ein Bergsteiger, der ihm von oben entgegenkam, machte ihm ein Zeichen. Jonas verstand, er solle umkehren.
    Immer diese gutgemeinten Ratschläge, dachte er. Als wüsste ich nicht, was ich tue. Als hätte ich es nicht immer gewusst. Als hätte ich nicht immer recht behalten, wenn es darauf angekommen war.
     
    Gehen.
    Wollen.
     
    Der nicht allzu dichte, aber lästige Nebel verzog sich binnen Minuten, und Jonas hatte plötzlich freie Sicht bis zum Horizont. Er betrachtete die Bergriesen, die den Everest flankierten und von dieser Höhe aus bereits klein erschienen. Er sah auch die Erdkrümmung, diesen wunderschönsten Beweis dafür, dass die Erde keine Scheibe war. Diesmal jedoch schaute er nur kurz hin und setzte seinen Weg fort.
    Eine leere Sauerstoffflasche auf dem Weg hielt er für ein Auto, und er wunderte sich, dass hier Autos herumstanden, bis sein Verstand wieder klarer wurde.
    Einen Schritt. Eine Minute Rasten.
    Einen Schritt. Eine Minute Rasten.
     
    Sein Gehirn funkte ab und zu Alarmsignale. Etwas war nicht in Ordnung, aber er hatte keine Ahnung, was. Es war so ein zauberhafter Tag. Warm und einfach.
     
    Jonas erkannte den Hillary-Step sofort, jene zehn Meter hohe Felsstufe, die jemand wie er ohne Fixseile in dieser Höhe niemals hätte überwinden können, und hinter der nur noch die fünfhundert Meter des Gipfelgrats lagen, was bedeutete, dass er es fast auf 8800 Meter geschafft hatte.
    Gar nicht so ungefährlich, dachte Jonas, während er verschnaufte und sich die Stufe ansah. Wenn ich da ohne größere Schwierigkeiten raufkomme, gehe ich weiter. Sonst drehe ich um.
    Er hakte seine Steigklemme ein und zog sich nach oben.
    Er kletterte wie ferngesteuert. Es war, als würde ein unsichtbarer Helfer seine Schuhe an die richtigen Stellen setzen und dann auch noch so freundlich sein, ihn hochzuschieben. Selbst sein umwölkter Verstand begriff, dass das, was da vor sich ging, eigentlich unmöglich war. Doch er träumte nicht, es war wirklich, er kletterte den Hillary-Step hoch, als befände er sich im Turnsaal an der Kletterwand, zumindest kam es ihm so vor.
    Wer ist da? dachte er.
    Das weißt du wirklich nicht? hörte er.
    Günstiger Zeitpunkt, dachte er.
    Du bist ein richtiger Esel, weißt du das?
    Das sagt der Richtige.
    Touché.
    Und jetzt?
    Das letzte Stück gehen wir zusammen. Damit du da nicht hinunterrollst.
     
    Auf dem Gipfelgrat wehte so starker Wind, dass das Fixseil vor ihm mehrere Meter horizontal in die Kangshung-Wand hinausgeblasen wurde. Hier gab es nur noch einen schmalen Weg. Einen Meter nach links, und Jonas war weg. Einen Meter nach rechts, und Jonas war weg.
    Los, hörte er. Das klappt schon.
    Du hast leicht reden.
    Auch wahr.
     
    Nicht denken. Nur gehen. Es wird dunkel werden und wieder hell werden, und dann werde ich feststellen, ob ich noch da bin. Immerhin bin ich nicht allein. Ich bin auf dem Höhepunkt der Schmerzpyramide. Es wird alles besser

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