Das größere Wunder: Roman
ob ich Ihnen noch trauen darf, mein Herr.
Endlich hast du’s kapiert. Los, wir hauen ab.
Du darfst mir trauen, mein Junge. Darfst du. Du sitzt schon seit Jahren hier und erzählst mir immer das Gleiche.
Glaub ihm kein Wort!
Ich sitze seit einer Viertelstunde hier!
Das sagst du auch schon seit Jahren.
Glaub dem Arsch kein Wort. Frag ihn mal, wie du heißt. Wetten, das weiß er auch nicht?
Wie heiße ich?
Dein Name ist nicht wichtig, Jungchen.
Doch, das ist er. Das bist nämlich du, Jonas, du bist das. Und du gehst jetzt weiter, Jonas. Wenn es mal wieder hell wird.
Ich kann nicht.
Dann greif in deine Tasche. Links ist dieses Energiezeug. Rechts das Funkgerät. Die Paste isst du. Das Funkgerät schaltest du ein.
Hoffentlich verwechsle ich das nicht.
Diese Witze haben mich immer schon wahnsinnig gemacht.
Gute Witze machen kann doch jeder. Am besten sind die schlechten, wenn sie von jemandem kommen, der weiß, dass sie schlecht sind.
Mich haben sie halb verrückt gemacht, und trotzdem mochte ich sie irgendwie. Das darf man einem wie dir allerdings nicht auf die Nase binden. Könntest du bitte deinen Energieriegel zu dir nehmen?
Wieso bist du eigentlich erst jetzt da?
Ich war schon öfters da.
Ach ja? Wann?
Einmal hast du mich gesehen. Ich war am Strand, du warst auf einer Welle.
Die Sonne kam wieder, und irgendwie schaffte es Jonas, die Energiepaste aus seiner Tasche zu kramen. Die Verpackung aufzureißen gelang ihm mit den erfrorenen Händen jedoch nicht mehr, also stopfte er sich alles in den Mund und zerfetzte das Plastik mit den Zähnen.
Als er das Funkgerät in der Hand hielt, begriff er nicht, was zu tun war. Minuten vergingen, und er wurde wieder müde. Er drehte an den Knöpfen wie ein Affe, dem jemand einen Wecker in den Käfig geworfen hatte, bis er plötzlich ein Rauschen hörte und mit einem Schlag ins Denken zurückfand.
»Hallo?«
Er konnte kaum sprechen, seine Stimme hörte sich nicht an, als würde sie zu ihm gehören, ihr grobes Krächzen erschreckte ihn. Er schluckte eine Handvoll Schnee, um menschlicher zu klingen. Zwar spülte er damit auch einiges an Plastik hinunter, aber das kümmerte ihn nicht.
»Hört mich jemand?«
Es dauerte eine Weile, bis sich jemand meldete.
»Wer spricht da?«
»Jonas.«
Nun kam die Antwort innerhalb einer Sekunde.
»Ist das ein Scherz?«
»Nein.«
»Jonas, ich bin’s, Helen! Wo steckst du?«
»Weiß nicht.«
»Moment! Bleib dran!«
Einige Zeit verstrich, ob Sekunden oder Minuten, wusste er nicht. Er gab sich Mühe, den Schwätzer gegenüber zu ignorieren, der ihm unablässig zuwinkte.
»Jonas? Hier Hadan! Bitte kommen!«
»Hier.«
»Wo bist du?«
»Keine Ahnung.«
»Jonas, wo immer du bist, du musst allein absteigen! Schaffst du das? Niemand von uns ist in Lager 4 geblieben, ich musste alle runterschicken. Wegen des Sturms gestern ist auch von den anderen Teams noch keiner oben, glaube ich. Wie hoch bist du?«
»Weiß nicht.«
»Ramirez hat dir doch seine Uhr geschenkt, oder?«
»Ja.«
»Sie hat einen Höhenmesser. Schau auf die Uhr und sag mir, in welcher Höhe du dich befindest!«
»Schaffe ich nicht.«
»Du schaffst es nicht, auf die Uhr zu sehen?«
Jonas entglitt das Funkgerät. Seine Augen fielen zu, und sofort wurde der Schmerz schwächer. Danke, dachte er.
Neben sich hörte er Hadans aufgeregte Stimme und fragte sich, warum der sich jetzt noch aufregte.
Er sitzt in der Steppe in jenem Land, das ihn von allen am meisten eingeschüchtert und zugleich am meisten fasziniert hat, nämlich in der Mongolei.
Es ist ein riesenhaftes Land. Jeder Mensch hier scheint allein zu sein. Die Straßen sind keine Straßen, sondern lehmige, plätschernde Wege, nach starkem Regen unpassierbar sogar für seinen Geländewagen.
Er sitzt allein in der Steppe und schaut hoch zur Sonne, die sich hinter dem Mond versteckt, und fragt sich, was ihm dieser Anblick bedeutet. Warum er ihm jedes Mal aufs Neue das Gefühl gibt, sich nicht fürchten zu müssen und immer auf sich vertrauen zu dürfen. Was hat das bloß mit der Sonne zu tun?
Und was hat dieses Gefühl mit jenem anderen zu tun: sich immerzu im Neuen, Unbekannten verlieren zu wollen, weil das Neue stärker ist als alles, was man ihm entgegenzusetzen hat?
Oder: die Sehnsucht, einmal im Leben einen Menschen zu treffen, der stärker ist als alles, was man ihm entgegenzusetzen hat.
Und all das erfordert: Mut.
Mut erfordert es, liebesfähig zu sein, oder sich selbst zu vergessen.
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