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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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war nicht mehr er selbst, doch es war egal. Er fühlte sich, als hätte er eine Flasche Whisky geleert. Er erlebte Phasen des Rausches und der Euphorie, die abgelöst wurden von solchen der Stumpfheit, der Apathie und der totalen Gleichgültigkeit. Mitunter verließ ihn neben der Orientierung auch das Interesse, lebend von hier wegzukommen, und er spielte mit dem Gedanken, sich aus dem Fixseil auszuklinken und in den Schnee zu legen, für zehn Minuten nur.
    Es war Gyalzen, der sich ausklinkte.
    »Jonas, ich muss umdrehen.«
    »Wieso, was ist los?«
    »Manuel hat Probleme mit den Augen. Ich weiß zwar nicht genau, was eine Netzhautblutung ist, aber angeblich hat er so was, und ich muss helfen, ihn runterzubringen. Es könnte auch ein Lungenödem sein, weil er Schleim hustet und sich seine Lunge nicht gut anhört, sagt Sven.«
    »Und ich? Komme ich mit?«
    »Es gibt zwei Möglichkeiten. Du solltest, wenn du allein weitergehst, demnächst auf Ang Babu und Lobsang treffen. Traust du dir zu, ihnen entgegenzugehen? Du könntest auch hier warten, aber dann kühlst du aus.«
    Jonas dachte nach.
    »Wir sind ohnehin spät dran«, sagte der Sherpa, »vermutlich zu spät, und das Wetter wird auch schlechter. Wenn ich allein absteige, bin ich schneller und kann schneller helfen, aber um ehrlich zu sein, wäre es mir trotzdem lieber, du kommst mit mir runter.«
    »Ich gehe hoch«, sagte Jonas.
    »Bist du sicher?«
    »Absolut.«
    »Ganz wohl fühle ich mich dabei nicht.«
    »Ich gehe.«
    »Am Südgipfel musst du unser Sauerstoffdepot suchen, wenn du bis dahin die beiden nicht getroffen hast. Weißt du, wie wir immer unsere Depots markieren?«
    »Ich kenne das Zeichen. Ich finde es.«
    »Ich bin sicher, du triffst die zwei vorher.«
    Jonas hatte sich schon wieder eingeklinkt und bewegte sich aufwärts. Er dachte nicht darüber nach, was es bedeutete, dass Gyalzens Rücken mit dem großen Rucksack vor ihm verschwunden war.
     
    Das Wetter wurde tatsächlich schlechter, doch Gewitterwolken sah Jonas nirgendwo, daher ging er weiter, während immer mehr Bergsteiger umkehrten und ihm entgegenkamen. Den Gipfel hatte keiner von ihnen erreicht. Sie alle meinten, es sei zu spät dafür.
    »Kein guter Tag«, sagte Todd. »Du solltest auch runter.«
    »Ich gehe weiter.«
    »Hast du auf die Uhr geschaut?«
    »Hadan braucht einen auf dem Gipfel.«
    »Einer von euch hat den Gipfel erreicht, weißt du das nicht? Der Portugiese.«
    »Der hat wegen seiner Verlobten umgedreht.«
    »Nein, er ist bis zum Gipfel gegangen.«
    »Sehr gut. Das mache ich auch.«
    »Deine Entscheidung.«
     
    Die Belgier drehten um, nachdem einer von ihnen schneeblind geworden war und ein anderer Blut gespuckt hatte. Die Expedition der deutschen Ärzte drehte um, weil sie über Funk erfahren hatte, dass es Verletzte zu betreuen gab. Die letzten Österreicher, Slowenen und Russen drehten um, auch der Argentinier trat niedergeschlagen aus der Reihe, und zuletzt gab Hristos Truppe auf.
    »Hristo ist tot«, sagte der Bulgare, mit dem Jonas zuvor geredet hatte. »Ich habe den Schweinehund nicht leiden können, aber das ist schlimm. Du solltest mit runterkommen. Es wird zu spät.«
     
    Ang Babu und Lobsang kamen ihm entgegen, zwischen sich den völlig erschöpften Tiago. Ihre Mienen waren starr.
    »Weiß man etwas von den anderen?« fragte Jonas. »Was ist mit Anne?«
    »Sie wollte immer, dass ich weitergehe, wenn ihr etwas zustößt«, sagte Tiago. »Und dasselbe galt umgekehrt!«
    »Wir wissen noch gar nichts«, sagte Lobsang.
    »Drückt mir die Daumen«, sagte Jonas.
    »Du kommst mit uns runter!« befahl Ang Babu. »Es ist zu spät.«
    »Ich gehe hinauf.«
    »Nein, das machst du nicht! Du kommst mit uns!«
    »Tut mir leid. Ich muss hinauf.«
    »Es wird sogar für uns knapp, Jonas«, sagte Lobsang eindringlich. »Es sind heute schon viele Menschen gestorben. Es reicht.«
    »Ich versuche es. Wenn ich es ohne Komplikationen zum Südgipfel schaffe, gehe ich weiter, sonst drehe ich um.«
    »Das ist eine ganz schlechte Entscheidung!« sagte Ang Babu.
    »Es ist meine.«
    »Hadan wird sie nicht gut finden.«
    »Hadan ist nicht hier.«
    »Jonas, bitte komm mit uns!«
    »Ich gehe hoch.«
    »Jonas, wir können dich nicht begleiten, wir dürfen es nicht, und wir würden es sowieso nicht tun, denn wir haben nicht die Absicht zu sterben. Du wirst ganz allein sein. Wir müssen hinunter, Sam hat Probleme, wir müssen ihn hinunterbringen.«
    »Ich gehe hoch.«
    »Zum Kuckuck«, rief Tiago,

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