Das größere Wunder: Roman
höre dich«, sagte Jonas.
»Alles in Ordnung mit dir?«
»Danke, muss nur erst mal verschnaufen.«
»Viel trinken, das ist jetzt das Wichtigste. Aber das weißt du selbst, ist ja nicht dein erster Berg.«
»Nein, ist es nicht.«
»Was war eigentlich dein höchster Gipfel?«
»Helen, ich bin jetzt nicht …«
»Das ist für mich nicht uninteressant, die Erfahrung spielt eine große Rolle für die Akklimatisation. Wie hoch warst du schon?«
Jonas rieb sich das Gesicht und schwieg.
»Jonas, ich unterhalte mich nicht aus reinem Vergnügen mit dir oder weil es keine Kranken und Jammernden ringsum gäbe und mir langweilig wäre. Ich will einschätzen, wie klar du denken kannst. Das ist der Everest.«
»Das ist mir schon aufgefallen.«
»Hier gehen ganz üble Dinge vor sich. Bei den Rumänen hat es auch einen erwischt, die Lunge von dem musst du dir mal anhören. Solange da noch was zu hören ist. Aber die Gruppe kenne ich, es war nur eine Frage der Zeit, bis bei denen etwas passiert. In Kathmandu hat …«
»Helen, mir geht es gut«, sagte Jonas, stand auf, ein wenig wackelig, und sah ihr direkt in die Augen.
»Ich will dich nicht auch noch im Gamow von ein paar Sherpas runtertragen lassen müssen.«
»Das wird ganz bestimmt nicht nötig sein, versprochen.«
»Um dich wäre es schade«, sagte sie. »Verstehst du?«
»Ich verstehe«, sagte er.
»Das verstehst du also.«
»Ja, Helen. Das verstehe ich.«
»Gut, Jonas, dann sag mir, was dein höchster Berg war.«
»Das Matterhorn.«
»Das ist doch hoffentlich ein Witz!« rief sie aus.
»Ist es«, sagte er. »Ein Witz.«
»Weißt du eigentlich, dass ich das Recht habe, dich hier im Basislager festzuhalten oder nach Lukhla zurückzuschicken, ganz egal, was Hadan meint? Wenn ich dich nicht für körperlich und geistig imstande halte, diesen Berg zu besteigen, bleibst du da.«
»Aconcagua«, sagte Jonas. »6900 Meter. Können wir dieses Theater jetzt lassen?«
»Na schön. Übrigens, ich weiß nicht, ob ich dir das schon gesagt habe: Sprich vor anderen Teams bitte nicht davon, dass ich als Ärztin dabei bin.«
»In Ordnung, aber wieso denn nicht?«
»Weil die meisten keine haben. Viele Teams verfügen nicht einmal über das Nötigste an Ausrüstung, die glauben, sie klettern hier einfach mal so hoch. Schlimmstenfalls tauchen bei mir jeden Tag Dutzende von Leuten auf, und ich kann nicht alle behandeln. Speziell unseren Gamow-Sack muss ich dann herborgen, und ich wette, genau dann, wenn der mit irgendeinem saudischen Prinzen unterwegs nach unten ist, kriegst du deine Probleme. Na egal. Noch Tee? Was zu essen?«
»Irgendwas gegen Übelkeit …«
Er stieß sie zur Seite. Noch vor der Toilette hörte er ihr Lachen. Er musste selbst lachen. Aber nur kurz.
2
Für Jonas hatte jede Zeit ihren eigenen Geruch, so wie sie auch eine eigene Stimmung und einige charakteristische Bilder hatte. Die Zeit, als er sieben oder acht war und lernte, dass das Leben nicht einfach sein würde, roch nach dem starken Filterkaffee seiner Mutter.
Es war jene Zeit, in der er unglücklich war, wenn er in der Schule sitzen musste, weil er dann nicht auf seinen Bruder aufpassen konnte. Mike besuchte den Kindergarten, obwohl er gleich alt war wie Jonas, auf den Tag genau. Bei seiner Geburt war etwas schiefgegangen, die Nabelschnur hatte sich um seinen Hals gewickelt und ihm zu lange die Luft abgesperrt, und nun konnte er weder bis drei zählen noch einen Hund von einer Katze unterscheiden.
Es gab niemanden auf der Welt, den Jonas so sehr liebte, nicht einmal Werner. Er dachte Tag und Nacht daran, wie er Mike beistehen konnte, wie er ihn vor den Hänseleien anderer Kinder und vor der Wut seiner Mutter schützen konnte, der Wut seiner Mutter und der ihrer Freunde, die nichts übrighatten für ein Kind, das dauernd in die Hose machte, mit dem Essen herumwarf und Haushaltsgeräte kaputtschlug. Und so kam Jonas jeden Morgen zu seiner Mutter in die Küche, wo es nach Kaffee roch, im Radio Volksmusik gespielt wurde und überall leere und halbleere Rotweinflaschen herumstanden.
»Mutti, ich habe gestern ein Glas aus dem Schrank genommen.«
»Na und? Stell’s wieder zurück.«
»Das kann ich nicht.«
»Wieso nicht? Hast du es zerbrochen?«
»Es ist mir runtergefallen. Tut mir leid.«
»Du bist ein Idiot, weißt du das? Das wirst du von deinem Taschengeld bezahlen.«
»Entschuldige bitte.«
»Ach, verzieh dich.«
Jonas war jede Form von Beschimpfung oder Strafe lieber, als mit
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