Das große Buch der Lebenskunst
Schriftstellerin Zenta Maurina schreibt echten Freundinnen die Fähigkeit zu, »trübe Dezemberstunden in Maitage zu verwandeln und mitten in
der Nacht ein Licht zu entzünden«.
Freiraum
D as rechte Miteinander von Liebe und Freiheit zu finden, ist nicht einfach. Unsere Liebe ist oft genug
vermischt mit Besitzansprüchen, mit Festklammern, mit Erwartungen an den andern. Und sie erhebt oft den Anspruch der Gegenseitigkeit. Was ich für den
andern tue, das erwarte ich auch von ihm. Doch dieses Rechnen verunmöglicht wahre Freundschaft. Es gibt Freunde, die sich jahrelang nicht sehen und nicht
miteinander kommunizieren. Doch sobald sie sich treffen, flammt die Freundschaft wieder auf. Die Liebe und das Verstehen strömen zwischen den beiden, als
ob sie sich erst gestern getrennt hätten. Sie sind miteinander vertraut. Sie kommen in der Erzählung sofort zum Wesentlichen. Sie berühren einander. Sie
werden eins in ihrem Herzen. Sie haben sich gegenseitig in die Freiheit entlassen, ohne ihre Liebe zueinander zu verlieren.
Das Verhältnis von Freiheit und Liebe wird bei jedem Freundespaar anders sein. Immer wenn ich einen Freund gern habe, entsteht auch ein Stück
Abhängigkeit. Wenn ich mir dieser Abhängigkeit bewusst werde, kann ich mich davon distanzieren und den Freund bewusst freilassen. Echte Freundschaft
zeichnet sich durch innere Freiheit aus. Ich darf sagen, was ich fühle, ohne alles berechnen zu müssen. Ich bin frei, den Weg zu gehen, den ich als
richtig erkannt habe. Ich brauche keine falsche Rücksicht auf den Freund zu nehmen, wenn ich spüre, dass ich eine andere Aufgabe oder einen anderen
Wohnort wählen sollte. Ich kann frei atmen. Und ich lasse auch dem Freund den Freiraum, den er für sein Leben braucht.
Trau der Liebe –
und geh ihr auf den Grund
Nur mit dem Herzen
siehst du gut
Geheimnis des Herzens
E ines der berühmtesten Worte von Antoine de Saint-Exupéry, das viele Menschen nach wie vor berührt, steht
in seiner Parabel vom »Kleinen Prinzen«, jenen Geschichten von der Suche des Menschen nach Glück: »Adieu, sagte der Fuchs. Hier mein Geheimnis: Es ist
ganz einfach: Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.«
Die deutsche Sprache hat für die drei Wörter glauben, lieben und loben die gleiche Wurzel: liob = gut. Glauben heißt »für lieb halten,
gutheißen«. Liebe besteht darin, das Gute, das ich im andern sehe, gut zu behandeln. Und loben meint: das Gute auch ansprechen und gut über einen Menschen
reden und ihm so Raum zur Entfaltung und zum Wachsen schaffen.
Die Sprache und was sich in ihr an Weisheit verdichtet hat, entspricht der Erfahrung des Fuchses aus dem Kleinen Prinzen von de Saint-Exupéry. Das Herz
sieht gut. Und indem es gut sieht, entdeckt es das Gute im andern. Wer mit einer schwarzen Brille auf den andern sieht, wird nur das Dunkle in ihm
wahrnehmen. Das Lichte und Helle, das Gute und Milde wird er übersehen. Nur wenn ich mit meinem Herzen auf meinen Nachbarn sehe, werde ich ihm
gerecht. Aber die Voraussetzung ist, dass mein Herz gut ist, dass ich die destruktiven Gedanken nicht in mein Herz lasse. Wessen Herz eine Mördergrube
ist, der kann auch nicht gut sehen und das Gute im andern erkennen.
Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar. Die Augen sehen die Oberfläche. Sie nehmen wahr, wie die Gesichtszüge des andern sind. Sie nehmen den
Ärger wahr, die Unzufriedenheit, die Verschlossenheit, die Härte, den Gram und das Leid. Das Herz sieht tiefer. Es sieht hinter das Antlitz eines
Menschen. Es sieht in sein Herz. Und im Herzen eines jeden Menschen erkenntes die Sehnsucht, gut zu sein, im Frieden mit sich und der
Welt zu sein, die Sehnsucht, sich und sein beschädigtes Leben Gott hinzuhalten und in Gott Heilung zu finden und in Einklang zu kommen mit sich
selbst.
Das Wesentliche eines Menschen ist unsichtbar. Aber auch das Wesentliche der Welt.
Lebenskunst besteht darin, mit dem Herzen zu sehen. Nur wenn ich mit dem Herzen sehe, begegne ich in der Blume der Schönheit ihres Schöpfers und im
Baum meiner eignen Sehnsucht, fest verwurzelt zu sein in einem tieferen Grund. Nur dann empfinde ich sogar beim Anblick eines Baumes die Sehnsucht, so in
meine Gestalt hineinzuwachsen und so aufzublühen, dass andere in meinem Schatten Geborgenheit und in meiner Nähe Trost finden.
Nur das Herz sieht in allem die Spuren jener letzten Wirklichkeit und Gewissheit, die mich aus dem
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