Das große Buch der Lebenskunst
Sirach mit den Worten ausdrückt: »Ein treuer Freund
ist wie ein festes Zelt; wer einen solchen findet, hat einen Schatz gefunden. Für einen treuen Freund gibt es keinen Preis, nichts wiegt seinen Wert auf.«
(Sir 6,14f) Der Freund ist wie ein schützendes Zelt, das sich über mir wölbt. In diesem Zelt kann ich daheim sein. Da bin ich geborgen, geschützt von der
stechenden Sonne und der nächtlichen Kälte.
Heimat
I n der Freundschaft erfahren wir Heimat. Rainer Maria Rilke sagt: »Was ich an Heimat habe, liegt, da und
dort verteilt, im Bewusstsein der Freunde.« Dort, wo die Freunde sind, dort ist Heimat. Und Heinrich Zschokke drückt die gleiche Erfahrung so aus: »Wer
ohne Freund ist, geht wie ein Fremdling über die Erde, der zu niemandem gehört.« In der Zeit des Rokoko, in der sich der Bürger in einem absolutistischen
Staat oft genug ohnmächtig und überflüssig fühlte, wurde die Freundschaft zu einem Raum, in dem man sich mit Gleichgesinnten traf und darin die Erfüllung
des eigenen Daseins erfuhr. Wie Chateaubriand es ausdrückt, zog man sich »mit einem vollen Herzen in einer leeren Welt« in die Freundschaft
zurück. Freundschaft wurde zum Ort, an dem man sich daheim fühlte. Was die Menschen damals erlebten, trifft auch auf unsere Zeit zu. Gerade in der
Anonymität unserer Zeit braucht es Orte der Heimat, Orte, an denen ich zu Hause sein kann. Auch heute gilt: Dort, wo Freunde sind, entsteht Heimat.
Wegbegleiter
E in japanisches Sprichwort sagt: »Mit einem Freund an der Seite ist kein Weg zu lang.« Der Freund an der
Seite gibt uns Kraft, weiterzugehen, auch wenn die Schwierigkeiten von allen Seiten auf uns einstürmen. Er hält uns, nicht aufzugeben, wenn wir mit dem
Rücken an der Wand stehen. Er motiviert uns, den Kampf des Lebens zu wagen. Ohne Freund sind wir in Gefahr, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Wenn
ich weiß, dass mein Freund zu mir steht, dann relativieren sich die Probleme. Ohne Freund hätte ich schon manchmal gesagt: »Macht euren Dreck alleine!«
Aber ich weiß genau, dass ich mir und den Menschen, für die ich verantwortlich bin, mit dieser Reaktion keinen Gefallen getan hätte. Das Gespräch mit dem
Freund lässt mich schnell meine eigenen Lebensmuster durchschauen. Ich spüre, wenn ich in eine Sackgasse rennen würde. Der Freund bewahrt mich davor. Er
gibt mir den langen Atem, den ich brauche, um meinen Weg zu Ende zu gehen.
Beschwingt
D ie seit ihrer frühen Jugend gelähmte Schriftstellerin Zenta Maurina hat die Freunde als Quelle ihres
Lebens erfahren, als Quelle auch der Kraft, dieses behinderte Leben in einer guten Weise zu meistern: »Was für den Vogel die Kraft der Schwingen, das ist
für den Menschen die Freundschaft; sie erhebt ihn über den Staub der Erde.« In der Tat: Der Freund an der Seite ist wie ein Vogel, der mich auf dem
beschwerlichen Weg meines Lebens emporhebt, damit ich leichten Schrittes den Weg weitergehen kann, ohne über jeden Stein zu stolpern, der sich mir in den
Weg legt. Das Gespräch mit dem Freund relativiert die Probleme und lässt sie mich in einem anderen Licht sehen. Sie sind nicht mehr so bedrohlich. Die
Nähe des Freundes wird zu einem Schutz vor den negativen Emotionen, die mir von außen entgegenkommen. Sie wiegt all das Schwere auf, das täglich auf mich
einstürmt.
Fluss der Gefühle
E s ist keineswegs selbstverständlich, dass Freundschaft gelingt. Georges Bernanos bezeichnet die
Langeweile als die größte Gefahr: »Keine Freundschaft vermag der Langeweile zu widerstehen.« Wenn sich Freunde nichts mehr zu sagen haben, wenn sie sich
an sich gewöhnt haben, aber nicht mehr offen sind für etwas, das sie übersteigt, dann wird die Langeweile die Freundschaft töten. Es fließt nichts mehr
zwischen den Freunden. Die Freundschaft vertrocknet, versandet. Langeweile entsteht immer dann, wenn die Quelle der Phantasie und Kreativität
versiegt. Oft besteht die Ursache dafür darin, dass man die eigenen Gefühle vor dem andern verschließt. Je mehr man aber an Gefühlen zurückhält, desto
weniger kann in uns und zwischen uns strömen. Wir verhärten uns immer mehr. Und diese Härte wird zur Langeweile. Wir öden uns an, anstatt voller
Begeisterung uns all das zu erzählen, was wir spüren und erleben.
Wer ständig beschäftigt ist, wer sich in die Arbeit flüchtet, der hat nicht nur keine Zeit zur Freundschaft, sondern er wird auch unfähig, einem andern
Freund zu sein.
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