Das große Buch der Lebenskunst
Schweigen. Wenn wir noch weitersprechen würden, würden wir das, was wir im Gespräch berührt haben, zerreden. Im Schweigen werden
wir auf neue Weise eins miteinander.
Der eingangs zitierte Satz meint noch etwas anderes. Es spricht davon, dass die Freunde über dieselben Dinge schweigen können. Wie soll man über etwas
schweigen? Schweigen ist doch einfach nur die Stille. Da ist doch gar kein Thema da. Über dieselben Dinge schweigen meint sicher nicht: brisante Themen
auszuklammern, die zum Streit führen könnten. Da wäre Schweigen nur eine Vermeidungsstrategie. Schweigen über dieselben Dinge, das heißt für mich, dass
man gemeinsam etwas schweigend genießen kann, etwa einen Sonnenuntergang, eine Bruckner’sche Symphonie, ein Gemälde. Die Freunde bleiben schweigend und
staunend stehen, wenn sich auf einmal bei der Bergwanderung eine wunderbare Aussicht eröffnet. Sie genießen schweigend das Panorama. Sie lassen dem andern
das schweigende Staunen. Sie zerreden nicht die Schönheit der Schöpfung. Sie schweigen miteinander, um das in sich eindringen zu lassen, was jeden
persönlich berührt. Irgendwann ist dann auch die Stunde, dass man über diese Erlebnisse sprechen kann. Aber zu einer Freundschaft gehört es, dass man
tiefe Erfahrungen schweigend miteinander teilt, anstatt sie durchReden analysieren zu wollen. Der Freund lässt dem andern das
Geheimnis. Er öffnet für den anderen einen Raum der Stille. Die Stille, die der Freund mir schafft, hat eine andere Qualität als das Schweigen, das ich in
der Einsamkeit wahrnehme. Gemeinsame Stille verbindet, sie führt uns ein in das Geheimnis des Seins, in das Geheimnis Gottes.
Wie die Sonne
D ie Freundschaft ist wie die Sonne, die das Leben des Menschen erhellt. So hat es der römische Philosoph
Marcus Tullius Cicero erfahren: »Die nehmen aus dem Weltenraum die Sonne weg, die aus dem Leben die Freundschaft wegnehmen.«
Ohne Freundschaft wird das Leben in der Tat dunkel und freudlos. Psychologen wissen davon zu berichten, dass Menschen, die keine Freunde haben, an
Schicksalsschlägen und Krisen wesentlich mehr leiden. Sie kommen manchmal nicht über die Erfahrung eines tiefen Leides hinweg. Gerade im Leiden bewährt
sich der Freund. Wer da treu zur Seite steht, erweist sich erst als Freund. Cicero hat das in dem berühmten Satz zum Ausdruck gebracht: »Amicus certus in
re incerta cernitur. Ob einer ein zuverlässiger Freund ist, das erkennt man in der Gefahr.«
Herzensmelodie
S eit jeher haben die Weisen den Wert der Freundschaft gepriesen und in immer neuen Bildern das Geheimnis
des Freundes ausgedrückt. Ein Bild hat sich mir besonders tief eingeprägt: »Ein Freund, das ist jemand, der auf die Melodie deines Herzens hört – und sie
dir wieder vorsingt, wenn du sie einmal vergessen hast.«
Ich weiß nicht mehr, von wem dieser Satz stammt. Aber dass der Freund auf die Melodie meines Herzens hört – das ist für mich ein wunderbares Bild. Der
Freund hört genau hin, was mich im Innersten bewegt. Er hört sich in mich hinein, um zu entdecken, was die Grundmelodie meines Lebens ist, um
wahrzunehmen, wo und wie mein Leben zum Schwingen und Tönen kommt. Und wenn ich diese Melodie vergessen habe, weil ich mich durch die Anforderungen des
Alltags von mir selbst entfernt habe, dann singt mir der Freund diese Melodie vor. Er bringt mich wieder in Berührung mit meinem eigentlichen Kern, mit
meinem wahren Wesen. Er spiegelt mir, wer ich bin. Der Freund erinnert mich an das, was ich im Tiefsten bin. Seine Aufgabe ist also mehr, als mich nur zu
verstehen und mehr als nur bei mir zu stehen. Er nimmt vielmehr die Melodie meines Herzens in sich hinein, um sie dann wieder neu zum Klingen zu bringen,
wenn sie in mir verstummt ist.
Festes Zelt
D ie eigene Not ist für die Weisen der Bibel ein Testfall für den wahren Freund. So heißt es im Buch Jesus
Sirach, in dem griechische Weisheit mit jüdischer Spiritualität verbunden wird: »Mancher ist Freund als Gast am Tisch, am Tag des Unheils ist er nicht zu
finden. In deinem Glück ist er eins mit dir, in deinem Unglück trennt er sich von dir. Trifft dich ein Unglück, wendet er sich gegen dich und hält sich
vor dir verborgen.« (Sir 6,10–12) Erst im Leiden wird die wahre Freundschaft erprobt. Der wirkliche Freund steht dem Leidenden treu zur Seite. Er geht
mit ihm durch alle seine Schwierigkeiten und Nöte. Von so einem Freund gilt die Erfahrung, die Jesus
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