Das große Leuchten (German Edition)
sich meine Adoptivmutter beziehungsweise Roberts Mutter mit so was nicht auskennt. Abu will gar nicht glauben, dass wir keine echten Brüder sind, er sagt, wir würden uns so ähnlich sehen. Und es würde ihn wirklich freuen, jetzt unsere Mutter kennenzulernen.
«Wir sind keine Brüder, und wir haben einfach kein Skype», sagt Robert. «Ich kann euch höchstens ein Foto von meiner Mutter zeigen.»
Er holt es raus – ich kenne es, er hat es immer in seiner Gürteltasche: Frances auf dem Korbstuhl vor ihrem Hippiehaus. Ein bisschen wie eine Postkarte: links ein Heuballen, rechts ein blühender Busch, in der Mitte Frances mit ihren Leinenklamotten – noch etwas jünger und nicht gut zu erkennen, deshalb wirkt sie einigermaßen freundlich. Und er holt noch ein Foto raus: wir beide als Kinder auf den Rapsfeldern vor der Scheune, mit ernsten Gesichtern im gelben Leuchten.
Abus Eltern betrachten die Fotos eine Weile, nicken und sagen, ja, dieses Haus und auch Roberts Mutter seien sehr hübsch, jetzt würden sie aber lieber skypen wollen. Sie sehen es einfach nicht ein: Deutsche ohne Skype. Irgendjemand aus der Familie müsse doch Skype haben, einer von unseren Cousins oder Neffen oder Onkeln.
«Es gibt nur uns und meine Mutter», sagt Robert.
Ein ungutes Schweigen entsteht.
Abu wirkt fast beleidigt, während er die Kabel wieder ausstöpselt.
Erst nach und nach kehrt seine Freundlichkeit zurück. Er sagt, es sei natürlich in Ordnung, er könne verstehen, wenn es uns noch zu früh sei für so was, vielleicht könnten wir es ja morgen oder übermorgen mit dem Skypen versuchen.
Tee. Tee beim Essen und nach dem Essen wieder Tee. Vor uns auf den Tellern glänzen Knochenreste in der stehenden Hitze, wir haben jeder ein Huhn mit Soße und Reis im Bauch. Viel zu viel, weil uns Mutter Merizadi immer nachgeladen hat, aber sie scheint davon überhaupt nicht müde geworden zu sein, sie plaudert fröhlich auf Persisch vor sich hin, als gäbe es nur diese eine Sprache auf der Welt.
Abu übersetzt, dass sie sich selbstverständlich noch an Anas Mutter erinnern könne, dass Anas Mutter das wildeste Mädchen in der Nachbarschaft gewesen sei und immer mit den Jungs Fußball gespielt habe, damals am Kaspischen Meer. Der Kontakt sei allerdings vor knapp zwanzig Jahren abgebrochen – seit Anas Vater damals mit Ana nach Deutschland geflohen sei.
«Das letzte Mal hat meine Mutter sie hier in Teheran gesehen, auf dem Basar», sagt Abu. «Da sollte man morgen anfangen zu suchen! Es gibt auch ein Foto von einem Baby, das Ana sein könnte. Und zwar aus dem Tuchladen meines Chefs. Gar nicht weit von hier.»
Abus Mutter nickt, setzt sich sehr gelenkig in den Schneidersitz und holt allerhand Fotos aus einer Schachtel, auf denen sie mit Anas Mutter zu sehen ist: als junge hübsche Mädchen vor einem Pferd; mit einer ganzen Gruppe von Mädchen auf einer Picknickdecke.
Abu gibt mir das Babyfoto: ein fröhliches Gesicht, das aus einem Haufen bunt schimmernder Tücher guckt. Schwer zu sagen, ob es wirklich Ana ist. Aber er sagt, sein Chef sei so oder so unser Mann – er habe Einfluss, Verbindungen und kenne sich aus. Nassir heiße er, aber wir sollten ihn besser mit Nassir Chan ansprechen. Das bedeute in etwa: der große Helfer.
4
Morsezeichen über der Stadt. Verrat mir, was passiert ist. Lenk meine Schritte in deine Richtung.
Vom Flachdach der Merizadis aus über die Straßen blickend.
Aber da sind natürlich keine Morsezeichen, zumindest keine mit Sinn, stattdessen: das Mosaik der nächtlichen Gärten, die vielen bunten Glühbirnen und funkelnden Lichter, ein künstlicher Tag über dem gesamten Viertel.
Auf dem Rand des Flachdachs spaziert ein Fasan wie in Trance, hüpft und läuft auf einer Lehmmauer weiter. Die Innenhöfe bilden ein lehmbraunes Schachbrett voller Satellitenschüsseln und Wäscheleinen. Vereinzelte Kinder, die ebenfalls auf den Mauern balancieren, die dem Fasan in einer Kolonne folgen und ihn mit Haarspray vollsprühen, wenn ich das richtig erkenne.
Kein Mond.
Stattdessen Anas Stimme in meinem Kopf.
Stell dir mal vor, man könnte immer nur die ORGANE von einem sehen, dass jeder Mensch zum Beispiel nur als DARM durch die Gegend gehen würde. Wär doch komisch! Dass einfach eine Kette von Därmen in der Luft über dem Bürgersteig schwebt. Meinst du, du würdest mich mögen, wenn ich nur noch ein sprechender DARM wäre, wenn der Rest von meinem Körper sich auflösen würde?
Ich weiß nicht, warum ich ausgerechnet
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