Das große Leuchten (German Edition)
seiner Zufriedenheit ausgewertet hat.
«Sie helfen mir?»
«Wir werden ein kleines Fest zusammen feiern, mein Freund.»
6
Mitternacht. Ich habe kein gutes Gefühl. Abus Mutter hat uns alle möglichen Horrorgeschichten mit auf den Weg gegeben: betrunkene Mädchen, die von Partys fliehen und dann dem Polizeichef zugeführt werden, der sie wochenlang einsperrt. Anschließend wäre ihr Leben vorbei. Oder man flieht vor der Polizei und wird von hinten angeschossen, um dann in einer Seitengasse auszubluten. Solange man sich an Nassir Chan halte, könne einem eigentlich nichts passieren, hat Abu gesagt, aber er selbst wollte trotzdem auf keinen Fall mitkommen.
«In welchem Stockwerk ist es denn?», fragt Robert.
«Geheim», sagt Nassir Chan.
Wir rattern senkrecht nach oben, im Käfig dieses Außenfahrstuhls. Irgendwo im Nordwesten Teherans. Nassir Chan bewegt seinen Zahnstocher im Mund, sieht schweigend über uns hinweg mit seinen knapp zwei Metern, präsentiert ein vieldeutiges, überlegenes Gesicht. Zwischendurch meine ich auch Neid oder Missgunst darin zu erkennen, weil wir in seinen Augen wahrscheinlich verwöhnte Bengel sind – ich stehe hier aber trotzdem sehr grade in diesem weißen Hemd, das mir Abu gegeben hat; vorne drauf sind zwei große Flammen.
Nassir Chan sei vor dem Krieg ein hochbegabter Student gewesen, hat Abu erzählt, einer, der ein Gelehrter hätte werden können – während er heute, nachdem er im Krieg einen Sohn verloren hätte, nichts mehr von Gelehrten und Geistlichen hielte. Eigentlich sei er aber doch irgendwie ein Gelehrter, und zwar einer mit Herz, er tue nur immer so ironisch.
Robert zuckt plötzlich – es liegt an diesem Knallen und Knattern, die Kabine stockt und scheint aus ihrer Verankerung zu rutschen, ehe sie wieder Fahrt aufnimmt. Tief unter uns schimmern die Straßen, unecht und dunkel und verknotet, liegen da wie phantasiert. Über uns ist alles tiefschwarz.
Wie das denn nun sei, fragt Robert, was Nassir Chan vom Kommunismus halte und ob Teheran tatsächlich ein verrückter Krüppel sei.
Diesmal zucke ich zusammen – aber Nassir Chan antwortet gelassen. Kommunismus sei weniger sein Interessengebiet, aber einige seiner Bekannten interessierten sich dafür, und Teheran sei durchaus kein Krüppel, das habe Abu wohl falsch verstanden. Teheran sei eine Braut, eine tanzende Braut mit tausend goldenen Ringen. Und seiner Meinung und einer alten Sage nach seien alle Metropolen solche Figuren: tanzende Bräute und Kinder und Krüppel, sitzende und stehende Riesen, Krieger und Kriegerinnen, die eines Tages aufeinander losgehen werden. Und ganz am Ende dieses Krieges der Metropolen würde Teheran immer noch tanzen, so wie Teheran immer getanzt habe, zu jeder Zeit.
Weil Teheran eine dreckige Hure sei.
Damit holt er etwas aus einem Zahn und schnippt den Zahnstocher weg. Der Aufzug stockt und rastet ein.
Eine Eisentür geht quietschend vor uns auf.
7
Es ist ein großes, rot beleuchtetes Apartment voller Plüsch, Parfüm und Popcornduft. Abu hat etwas von Frauen aus dem Widerstand erzählt, die als Prostituierte arbeiten, um an Geld zu kommen und gleichzeitig mächtige Männer auszuhorchen. Ich versuche, die Frauen im Raum zu erfassen, aber sie sehen eher nicht nach Widerständlerinnen aus, soweit ich das einschätzen kann. Manche haben Pflaster auf der Nase, wahrscheinlich von den Schönheitsoperationen, die hier billig und beliebt sein sollen: absurde, abgründig überschminkte Marzipangesichter. Ihre winzigen Kleider sind bonbonfarben, passend zu der buntgemusterten Tapete, nummerierte Schildchen stehen vor ihnen auf den Cocktailtischen.
Eine ältere Frau in einem gelben Abendkleid gibt Nassir Chan Küsschen-Küsschen und zwinkert uns an, ihre Haare sind ein zitternder Haarspray-Turm. Kopftücher scheint es gar nicht zu geben. An der Bar: Männer in teuer aussehenden Anzügen. Einer mit einem lachsfarbenen Turban auf dem Kopf.
Als wäre das hier der Dokumentarfilm, den Ana über ihre Mutter drehen wollte, zumindest war das ihr Plan: eine bunte und spannende Doku über das Leben ihrer Mutter in Teheran. Und ich sehe direkt vor mir, wie sie hemmungslos alle anspricht und ausfragt, ohne jede Vorsicht, wie immer, wenn sie sich in etwas reingesteigert hat.
«Hier entlang», sagt Nassir Chan. «Folgt mir.»
Er marschiert durch den Raum und sagt etwas, worauf die Männer an der Bar mit kleinen Verbeugungen antworten, zwei von ihnen stehen sofort auf und bieten uns ihre Barhocker
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