Das Große Spiel
sonst ein Schuldschein wert? Nicht mehr als das Papier? Es gebe eine Währung, erklärte ihm sein Vater dann lächelnd, die allein auf Vertrauen basiere. John Law fand diese Vorstellung aufregend. Er liebte solche Gedankenspiele. Nachzudenken über die Unendlichkeit etwa oder darüber, was gewesen sein mochte, bevor irgendetwas geworden war.
Ein Geräusch aus dem Nebenraum unterbrach Johns Träumereien. Jemand hatte einen Wind abgehen lassen, laut wie ein Posaunenknattern. William kicherte vor sich hin und sah seinen Bruder an. John lächelte schwach zurück. Dann sah er auf die Straße hinunter. In wenigen Minuten würde er sich John Law of Lauriston nennen dürfen. Noch konnte er es nicht recht fassen. Unten auf der Straße schaufelte ein Mann einen Haufen Exkremente von der Eingangstür eines Kaffeehauses weg. Er schob den Dreck einfach ein paar Meter weiter.
Edinburgh sah aus, als hätte ein unflätiger Gott jahrelang auf die Stadt gekotet. Wo man hinsah, lagen die Haufen herum.Vor einigen Monaten hatte ein englischer Rechtsanwalt, ein gewisser Joseph Taylor, einen schottischen Ladenbesitzer verklagt, weil er beim Verlassen seines Geschäfts in Kot ausgeglitten war und sich den Arm gebrochen hatte. »Jede Straße«, hatte er im Gerichtssaal von Edinburgh geschrien, »jede Straße von Edinburgh bezeugt die Verkommenheit ihrer Bewohner. Die Stadt ist ein einziger Abort.« Die Buhrufe der Zuschauer hatten ihn zum Schweigen gebracht. Der Auftritt des englischen Juristen hatte noch wochenlang die Gemüter erregt und aufs Eindrücklichste demonstriert, dass eine Vereinigung der englischen und der schottischen Krone ein Ding der Unmöglichkeit war. Aber in der Tat stank die Stadt zum Himmel, und viele Menschen verließen die Häuser nur mit parfümierten Tüchern vor Nase und Mund.
Endlich öffnete sich die Tür des Nebenzimmers, und Notar Roxburghe betrat den Raum. Er wirkte blass und erschöpft. Er stank nach Kot. In Händen trug er ein Aktenbündel, das er auf den wuchtigen Eichentisch fallen ließ. Dann ließ er sich in ein ebenso wuchtiges Sitzmöbel sinken.
»Madam Law«, begann er, »ich möchte zunächst erklären, dass Ihr verstorbener Ehemann William Law in seinem Beruf sehr umfangreiche und komplizierte Finanzgeschäfte getätigt hat. Er war schließlich nicht nur der bedeutendste Finanzier des schottischen Viehhandels. Er handelte auch mit Schuldscheinen und Wechseln. Er nutzte diese als Zahlungsmittel ... Ich weiß nicht, inwieweit Ihnen das alles bekannt ist?«
»Mein Mann und ich ...«, sagte Jean Law und hielt eine Weile inne. »Mein Mann hat mit mir sehr wohl über seine Geschäfte gesprochen.«
Der Notar nickte ungeduldig, benetzte seine trockenen Lippen mit der Zungenspitze, die voller Abszesse war. »Es gibt einige ausstehende Forderungen in geringer Höhe, aber auch ein beachtliches Guthaben in Höhe von über fünfundzwanzigtausend Pfund, das Ihr verstorbener Ehemann ...«
Jean Law unterbrach den Notar. »Wer sind die Schuldner?«
Der Notar verlas eine Liste mit Namen, und Jean erblasste. Der gesamte schottische Adel war darunter, die Dundonalds, die Argylls, die Burghlys, die Hamiltons, Seaforths, Mars ... Auch Notar Roxburghe war in der Schuldnerliste aufgeführt. Jean Law wusste genug über Finanzgeschäfte, um zu verstehen, dass es Jahre dauern würde, um diese Schulden einzutreiben. Fünfundzwanzigtausend Pfund war eine stolze Summe, verdiente ein guter Handwerker doch gerade mal drei Pfund im Monat. Fünfundzwanzigtausend Pfund, das waren rund siebenhundert Jahreslöhne eines Handwerkers. Jean Law warf einen Blick auf John, als wolle sie sich seiner Hilfe versichern. In gewissem Sinne war er schon ein Mann, groß gewachsen und selbstbewusst und von einem Äußeren, das beim weiblichen Geschlecht Begierde und Leidenschaft erweckte. Aber andererseits war er doch immer noch ein Junge. Insgeheim befürchtete Jean Law, dass ihr Sohn John zum Umgang mit Geld nicht geeignet wäre. Er liebte schöne Dinge, schöne Kleider, pflegte galante Umgangsformen und Manieren. Er liebte das Kartenspiel und die langen Nächte. Er war auf dem besten Wege, ein wahrer Beau zu werden. Und das machte Jean Law durchaus Sorgen. Denn sie wusste, wenn sie heute diesen Raum verließ, war ihr Sohn John ein reicher Mann. Er würde Geld haben, aber noch nicht die Reife, es klug zu verwenden.
Der Notar begann, das Testament des Verstorbenen vorzulesen. Die gerade erst erworbene Besitzung von Lauriston Castle und
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