Das gruene Gewissen
Hybris der ganz anderen Art, da der Mensch nicht, wie der Philosoph Martin Seel einmal schrieb, der Garant der Natur ist. 130
Die Geschichte der Industrialisierung Europas und mit ihr der Kultivierung einstmals naturbelassener Landschaften dokumentiert, dass Eingriffe in einer vom Menschen verwandelten Umwelt zur Stabilisierung fortan notwendig waren und sind. Die durch den Menschen geschaffenen Wälder können als nutzbare Wirtschaftssysteme nur dann intakt bleiben, wenn er sie pflegt, sich mit Wildregulation, Schädlingsbefall und Aufforstung befasst. Die Wälder sich selbst zu überlassen, führt zu keinem guten Ergebnis. Wer sich vom Gegenteil überzeugen möchte, dem sei ein Besuch eines ehemaligen militärischen Sperrgebiets mit Wald ohne Nachnutzungskonzept empfohlen.
Wälder sind mit anderen Worten von Menschen gemacht. Gäben wir ihnen keine Struktur, so wären sie gefährdet, Pilze und Schädlinge könnten sich ausbreiten wie Krankheiten, Wildtiere die Triebe abfressen, bestimmte Populationen die Überhand gewinnen. Jeder Gärtner kann ein Lied von der verheerenden Wirkung der Unordnung einer freien Natur singen, so auch Jakob Augstein in seinem jüngsten Buch: „Vergessen Sie das Gerede von der Natürlichkeit der Gärten. Ein Garten ist kein natürlicher Ort, sondern ein künstlicher. Er ist ein Produkt menschlicher Arbeit, nicht natürlicher Fügung. Die Natur mag idyllisch sein, aber nicht auf kleinem Raum.“ 131
Selbst Wälder können darum von uns profitieren, indem wir uns entschließen, sie zu schützen. Dabei liegt der Forstwirtschaft durchaus ein anderes Verständnis der Mensch-Natur-Beziehung zugrunde als Umweltverbänden, die mit Hilfe privater Mittelgeber Flächen aufkaufen. Sie glauben, die Natur am wirkungsvollsten bewahren zu können, wenn sie den Menschen komplett außen vor lassen. Dies ist anmaßend und verklärt die Natur eher, anstatt sie komplementär zum Menschen zu verstehen. Dort, wo der Mensch ohne Prinzipien handelt, ist die Natur in Gefahr, nicht dort, wo er bewusst in ihr zu wirken versucht, um sich einen Nutzen zu sichern.
Es bleibt am Ende eine Frage der individuellen Auffassung, wo das Natürliche beginnt und endet. Für manchen kann ein Stadtpark keine Natur sein. Für jemand anderen schon, da sich in ihmabgesehen von der Nähe der Bäume und mancher Vogelarten dieselben Mechanismen des zyklischen Wachstums alljährlich zeigen wie vor Jahrhunderten. Es ist eine Natur, die inmitten der Stadt scheinbar unberührt vom Siegeszug des Technischen mit großer Ruhe das tut, was sie immer getan hat. Sie nimmt sich ihren Raum, erobert wie am Beispiel einiger Tierarten neue Habitate.
Was Natur dann ist, wenn sie kein autonomes Selbst ist und sich erst durch unsere ästhetische Wahrnehmung zu einer Einheit fügt, danach fragt die Menschheit, solange es die Welt gibt. Ein Tag auf dem Eis, mit dem das Jahr beginnt, die ersten Blumen im Frühling, ein Sonnenuntergang am Meer, Pilze im Herbst auf einer Waldlichtung, der kristallklare Morgen in den Bergen, wenn der erste Frost kommt. Selten denken wir bei „Natur“ an Krankheiten, Krebs etwa, der ein Wille der Natur ist; dass Paare kinderlos bleiben oder ein Kind unheilbar krank geboren wird. Wir denken nicht an das Altern, den Tod, die Grausamkeiten gegen das Schwache, das erst die Zivilisation zu einem Thema gemacht hat.
Seitdem der Mensch begonnen hat, die Natur zu analysieren, und nicht mehr nur beschrieb, wie er ihren Phänomenen schutzlos ausgeliefert war, spürt er ein Unbehagen, dass sein Wirken am Ende fehlerhaft sein könnte. Dies gilt insbesondere für die Gegenwart, in der die Grundfrage der Naturphilosophie seit der Antike („Was ist Natur?“) stillschweigend in Zusammenhang mit der Umweltthematik zu beantworten versucht wird. Der Umweltschutz ist es, welcher der Beschäftigung mit Natur über einen Selbstzweck hinaus eine gesellschaftliche Legitimität verleiht. Und doch ist er ein Produkt der Kultur, unserer Werte, keine Antwort auf die Fragen der Natur.
Somit ist unzweifelhaft, dass die Natur nicht ohne den Menschen fassbar ist, wie es auch bei Platon im Eingangszitat dieses Buches zum Ausdruck kommt: Wohl gibt es beim dort sprechenden Sokrates die Faszination am Naturschönen draußen vor der Stadt, aber sie ist gebrochen von Ironie und dem Gefühl, dass dieNatur zu schön ist, um ganz wahr zu sein. 132 Erst das Bewusstsein für das Heraustreten aus der Natur hat uns empfänglich gemacht für ihre Botschaften,
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