Das gruene Gewissen
Gegenteil. Heute mehren sich die Befunde, dass das Abstoßen der Nadeln eine natürliche Stressreaktion nicht zuletzt auf die beginnenden regionalen Klimaveränderungen darstellt, wie sie Hüttl für die Region Berlin-Brandenburg untersuchte. „Es waren gute Weinjahre, Jahre von großer Trockenheit. Nur sagen durfte man dies nicht laut.“
Stattdessen hielt man beim Waldsterben mit Vehemenz an der menschlichen Verursacherhypothese fest, was tief blicken lässt und von exemplarischer Bedeutung für den deutschen Blick auf die Natur weit über das Thema hinaus ist. Wenn die Natur sich änderte, so viel stand fest, dann konnte es keine andere als eine anthropogene Ursache geben. Deswegen und vielleicht auch wegen der Mystifizierung der Wälder hat das Thema Waldsterben die Menschen in Deutschland viel mehr erregt als in Frankreich, wo, bei weniger Wald, dieselben Schäden zu beobachten waren. Dass Ulrich 1995 seine Thesen von Anfang der achtziger Jahre widerrief, ist nur noch Insidern bekannt. Den Medien war dies keine große Meldung mehr wert.
Die Entdeckung der Nachhaltigkeit
Es entspricht mittlerweile einem Gemeinplatz, darauf hinzuweisen, dass der Nachhaltigkeitsbegriff, den wir heute sehr breit und unspezifisch verwenden, ursprünglich aus der sächsischen Forstwirtschaft stammte und im Entstehen eine rein ökonomische Dimension hatte, wie es Hans Carl von Carlowitz 1713 in seiner Schrift Silvicultura oeconomica darlegte. Die in den siebziger Jahren eingesetzte Brundlandt-Kommission, vor allem aber die Debatten im Nachgang der ersten Rio-Konferenz des Jahres 1992 erweiterten ihn um den Dreiklang Wirtschaftlichkeit – Umweltverträglichkeit – Sozialverträglichkeit vor dem Hintergrund, dass die gewachsene Bedeutung der Schwellenländer erstmals in internationale Vertragswerke einfloss. Das gut klingende und vermarktbare Konzept der nachhaltigen Entwicklung (Sustainable Development) dominiert seitdem die weltweiten Debatten um ein Problem, das in der anthropologischen Perspektive lediglich den vorläufigen Endpunkt einer Entwicklung darstellt, die mit der Sesshaftwerdung des Menschen begonnen hat.
Das Sesshaftwerden war in gewisser Weise der entscheidende kulturelle Durchbruch. Der Mensch kultivierte die Pflanzen, später auch Tiere, und versuchte, sein Auskommen vom Zufall des täglichen Glücks unabhängiger zu machen. Erst durch das Pflanzen konnte er an einem Ort leben, den er sich gewählt hatte. Die Kultivierung der Pflanzen hatte zur Folge, dass aus Naturlandschaften vom Menschen geprägte Kulturlandschaften entstanden. Ausgehend vom Zweistromland, mussten die Menschen in Zentraleuropa und den späteren germanischen Gebieten, die fast vollständig mit Wäldern bewachsen waren, mit dem Roden von Flächen Raum für Agrarkultur schaffen – eine Entwicklung, die sich in ihren Auswirkungen, nicht aber in ihrer Idee von den heutigen Maßnahmen in Brasilien oder Indonesien unterscheidet.
Man kann diesen Vorgang als eine der ersten Revolutionen im Umgang mit der Natur bezeichnen. Denn zweifellos wurde auf Basis der verfügbaren Technik nach menschlichem Empfinden in die Natur eingegriffen, um genügend Bauholz für die entstehenden Städte zu erlangen, für Töpfereien, Brauereien, Gerbereien, Mühlen, Handwerksbetriebe, aber auch Fachwerkhäuser und geistliche Bauwerke. Für den Bau der Münchner Frauenkirche brauchte man allein über 2000 Baumstämme. 128 Flüsse wurden so zu Handelsstraßen, auf denen Kähne und Flöße unterwegs waren, die vor allem ein Lastgut kannten: Holz. Die Hanse und andere Handelsbündnisse übertrugen diesen Warentausch auf das Meer. Holz wurde auch in Gestalt von Fässern, in denen Honig, Bier und Lebertran neben Fellen und Getreide transportiert wurden,zu einem wichtigen direkten wie indirekten Handelsgut, das phasenweise sehr knapp war. Bereits damals erkannte man den Sinn der Nachhaltigkeit, aber auch die Notwendigkeit eines knallharten ökonomischen Kalküls der Forst- Wirtschaft .
Der zweite große Schritt erfolgte schon im Vorfeld der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts, und auch er veränderte den Charakter des deutschen Waldes gründlich und umfassend. Ob für den Bergbau und die Errichtung von Stollen, den Abtransport der Erze, die Eisenverhüttung, schließlich den Bau und das Befeuern von Dampfmaschinen, endlich die Errichtung neuer Anlagen und Siedlungen: Überall brauchte man den nachwachsenden Rohstoff, der verfügbar war und billig. Der alte für
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