Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Titel: Das halbe Haus: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Cynybulk
Vom Netzwerk:
Enzyklopädie, »Die Göttliche Komödie«, »Die menschliche Komödie«, alles von Immanuel Kant, »Kindheitsmuster«, »Geschichte meines Lebens« von Casanova, »Effi Briest« und »Anna Karenina« kamen in die Kisten. »Hanne, die Jawa und ich«, »Wie der Stahl gehärtet wurde«, alles von Hermann Kant, »Der kleine Prinz« und »Der geteilte Himmel« kamen auf den Schnullistapel. »Wir haben unsere Bücher gar nicht gemischt«, sagte Eva, »doch zumindest habe ich seine alle gelesen.« Das »Kochbuch für Frischvermählte« darf mit, der Berlin-Führer aus dem VEB Tourist Verlag nicht. »Stimmt es, dass Leos Vater ein Schriftsteller ist?«, fragte er von unten nach oben. – »Einer ohne Buch«, sagte sie, »nur Sinn und Form.« Aber das ist doch wahnsinnig viel, dachte er, Sinn und Form!
    Noch vor den Büchern haben sie die Dokumente gesichtet, die nicht mal einen Würfel füllen. Sie beugten sich über Katjas Geburtsurkunde, lachten über die Passbilder in den Werksausweisen seines Vaters, packten sein Diplom, seine Zeugnisse und einen Ordner mit der Aufschrift »Friederike« ein. Einen saharafarbenen DIN -A4-Umschlag, auf dem »Mittwochskarten« stand, legten sie ungeöffnet in die Kiste, Kuverts mit Fotografien, eine Mappe mit Kinderzeichnungen. Die Magazine mit den Nackschen, ein paar intime Bilder und Briefe sowie das Auto hatten die Angler einbehalten, ansonsten alles Beschlagnahmte zurückgegeben.
    Aus einer der Fototaschen fielen Ausflugsbilder. Es waren unscharfe Schnappschüsse, er beim Steinwurf, Leo neben einer Statue, Eva, die ihren Hut mit nacktem Arm festhält, die breite Krempe verschattet ihr Gesicht. Er begann, diese Fotos dicht an dicht auf die letzte Doppelseite seines Albums zu kleben, da hatte er noch ein bisschen Platz und Mumm. »Wir gehören nicht dazu«, sagte Eva und zupfte Jenny Posners Umstandskleid über ihren Bauch. »Und ob«, sagte er und presste Harztropfen aus der Tube. Während er klebte, nahm er sich vor, später einmal den Stammbaum zu vervollständigen. Mit weißem Buntstift würde er verschlungene Eheringe zwischen Vater und Eva malen und durchstreichen, würde Leo und Theo aufnehmen und durchstreichen oder ein Kreuz unter den Katernamen setzen. Auch neben Rudolfs ausgekratzte Lebensrune gehörte ein Kreuz, und dann würde er endlich mal der Frage nachgehen, wie ein gefallener Soldat einen Sohn zeugen kann und wieso ein Westonkel (ein echter, kein Messeonkel) sich nie meldet. Später, wenn etwas Zeit und Kraft übrig wären.
    Schwerfällig brachte sich Eva in eine bessere Position und füllte weiter die Transportunterlagen aus. »Hast du schon einen Namen?«, fragte er. – »Nein«, sagte sie. – »Wenn es ein Junge wird«, sagte er. – »Ja?« – »Dann kannst du den vielleicht«, und dann sagte er: »Theo nennen.« – »Das«, sagte sie, »ist keine schlechte Idee.« Draußen wurde es dunkel. »Was machen wir mit dem hier?«, fragte sie und hielt ein schwarzes Buch hoch, auf dem Jugendliche zu erkennen waren, die vor der Westberliner Disko »Sound« herumlungerten. Lichtstaub drang aus dem Eingang und legte sich auf ihre langen Haare. Nur ein einziges Gesicht ganz am Rand der Szene war dem Fotografen zugewandt: Mit hochgekrempelten Ärmeln lehnte einer an der Kante des Buches. Das werde ich sein, dachte er, süchtig nach Rauschgift. »Du brauchst keine Angst vor dem Neuen zu haben«, sagte sie und legte das Buch beiseite. Im Mittelteil dieses Buches, von dem Falk ihm einmal erzählt hatte, ist ein Mädchen abgebildet, das wie Leo aussieht und in einer öffentlichen Toilette liegt, tot. »Drüben, da sind auch nur Menschen«, sagte Eva. – »Wenn es Menschen sind, warum gibt es dann so ein Buch mit solchen Bildern?« – »Weil da eine kritische Öffentlichkeit existiert«, sagte Eva. – »Der einzige Unterschied zu hier ist doch«, sagte er, »dass es da anders scheiße ist.« – »Ich weiß nicht, ob man das so formulieren kann.« – »Vater hat immer gesagt, alles hier bei uns ist eine einzige große Lüge, ein Scheißhaufen, der mit Häkeldeckchen aus Worten zugedeckt ist. Aber das stimmt nur halb. Es ist ein großer Mist, und zugleich ist es schön.« – »Dann gilt das Gleiche auch für drüben.« – »Das mit dem Mist glaube ich dir sofort. Aber woher willst du wissen, dass es dort auch okey ist?« – »Ich war mal da.« – »Echt? Und wie war’s da?« – Sie umfasste ihren Bauch und blickte auf die leeren Regale. Dann sagte sie:

Weitere Kostenlose Bücher