Das halbe Haus: Roman (German Edition)
Friedrich lahmt plötzlich. Beim Gang in die Kleiderkammer versucht er es zu kaschieren. Bloß nicht ins Haftkrankenhaus geraten und plötzlich nicht mehr kerngesund sein. Er bekommt seine Winterkleider ausgehändigt, das beschlagnahmte Geld und seinen letzten Lohn. Sein goldener Ehering wird ihm übergeben, er ist ihm zu groß geworden. Im Münzfach seines Portemonnaies, in dem auch ein Milchzahn liegt, verstaut er ihn. Auf dem Weg in die Abschiebehaft fragt er sich, ob er jemandem noch was schuldet, mal abgesehen von seinem Beschützer. Hat er noch Schulden bei Mo oder Jasper? Künftig wird er alles in bar bezahlen. Geld kann man ja nie genug haben, und er wird zu Geld kommen. Spendierhosen wird er tragen, genug zum Schenken und für sich selbst haben. Nie wird er auf seinen Schatten treten, weil der im Knast weiter verwahrt wird. Mensch, das wird ein Sommer, auch der Weizen steht hoch. Und welch ein Sound: Summertime, and the living is easy. Nichts wird mehr auf ihm lasten, denkt er. Die Tage werden sein wie die Töne, die ein Schneebesen auf seinem Trommelfell erzeugt. Federleicht, nur ein Wischen, reinste Gegenwart, nur schauen, Musik, nur hören, horch, und aus der Vergangenheit nur ein leises Pfeifen, mehr nicht. Das werden paradiesische Tage sein, er ist doch schon im Paradies. Alles ist in Ordnung, und dann erklingt die eine Musik. Er hört, was ihn in Brandenburg zu Tränen gerührt hat, als er auf der obersten der drei Pritschen liegt, auf seinem hart erkämpften Schlafplatz, im Himmelreich. Er hat Cremedosendeckel auf den Ohren, und im Transi, das seinen Strom von einer gestohlenen Flachbatterie zieht, läuft die eine Musik, gespielt vom RIAS -Kammerorchester und erdacht vom besten Komponisten aller Zeiten. Er hört diese Musik jetzt, auf dem Koffer, jetzt, im Zug, jetzt, im Zuchthaus, und er hört sie jetzt, vor der kleinen Kirche. Eben noch ist er ein Junge wie alle anderen, Kartoffeln und Quark. Auf einem alten Damenrad mit glockenförmiger Lampe und breitem Sattel fährt er hinaus in die Welt. Er fährt über die Felder, zu dem kleinen Friedhof. Mit langem Bein tritt er in die Pedale, die Kette rasselt durch das Blech. Er kreuzt die Spur, die er selbst ausgelegt hat. Er greift nach dem Fell der Weidenkätzchen, in einem Pappelwäldchen legt er sich in den Geruch des Bärlauchs. Die Natur kennt kein Gut oder Böse, in der Natur gedeiht und verdirbt alles einfach so. Sein Fahrrad lehnt er an die Kirche, auf dem Vorplatz parken Straßenkreuzer von weit weg. Drinnen wird gesungen, dann spielt eine Orgel. Sie spielt für ihn. Die Pforte ist geschmückt mit Osterglocken, Forsythienzweigen und blauen Bändern. Als die Sonne hervorbricht, sieht er seinen Schatten auf dem hellen Holz, dann öffnen sich die Flügel, sein Schatten zerspringt, und die Orgelmusik trifft ihn mit Wucht. Triumphal und klagend, in tiefen, trauernden Bassstößen und mit tanzendem Jubelklang. Windmusik ist das, ein Wesen mit einer und tausend Seelen. Er weiß, dass er diese Musik nicht zum ersten Mal hört. Sie ist leicht und schwer, ist Gedeih und Verderb und: Gnade. Er ist kein Junge mehr wie alle anderen, denn etwas in seinem Innern, das eng gewesen ist, hat sich geweitet. Nachdem ihn der Konsul verraten hat und das kleine Radio gefunden ist, kommt er drei Tage in Dunkel- und einundzwanzig in Einzelhaft, aber die Musik spielt weiter. Rudolf ist tot, Unkraut vergeht. Im Licht der Töne postieren sich zwei Frauen. Sie halten ihm Kollektebeutel hin, teefarben wie das Netz des Birnenpflückers am Schuppen. Groß sind die beiden und schlank, und sie tragen so feine Kleider, dass ihm schlagartig bewusst wird, in kurzen Hosen und langen Strümpfen vor ihnen zu stehen. Er erhebt sich und tastet die Taschen seiner Almosenhose ab. Neben ihm parkt ein grüner Reichsbahnzug, hinter ihm liegt nichts, und vor ihm kommt eine Frau gegangen. Seine Taschen sind leer. Er hat Schulden in einer ungültigen Währung. Wie soll er die jemals zurückzahlen? In Valuta? Er weiß es nicht. Er weiß nur, dass er am Beginn einer Reise steht.
27. Zitroneneis
Leipzig, 7. September 1984
Alter Gangster!
Vielen Dank für die Poster. Die fetzen. Ich habe sie bereits verteilt. In der Penne ist es besch…! Total duster! Am Mittwoch bis 16 Uhr Unterricht. Wir müssen ganz schön pauken, um uns über Wasser zu halten. Hast Du ein Glück, daß Du doppelt so lange Ferien hast!
Die letzten freien Tage, nachdem Du gefahren bist, war ich mit Kerstin
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