Das halbe Haus: Roman (German Edition)
seinen Vater dabei, die er schweigend durch die Kontrolle hatte schleusen können. Zuerst hatte er einen Federball mitnehmen wollen, aber wie hätte sein Vater an zwei Schläger gelangen sollen. Also entschied er sich, nur seine tiefe Stimme mitzubringen und sie dem Vater zu schenken. Seine Stiefmutter und er saßen am Tisch, der Tee wurde dunkel. Als Vollzugsbeamte und acht Strafgefangene in Anzügen mit Gefahrenanstrich eintraten, suchte er seinen Vater vergeblich. Nur ein kleiner bartloser Mann mit geschorenem Schädel und wässrigen Augen kam an ihren Tisch und hielt sich an der Stuhllehne fest. Aus irgendeinem Grund stand er auf. Er war einen halben Kopf größer als der andere, der ihn schweigend ansah und endlich eine Hand vom Stuhl nahm. Der Mann legte die Hand auf sein kahles Haupt und ließ sie um einen halben Kopf in die Höhe fahren, so wie man einen Hut lupft. »Menschenskinder«, sagte er, setzte sich und schüttelte den Kopf. Der Sohn dachte: Wenn er erst mal meine tiefe Stimme hört, dann wird ihm zum Sehen auch noch das Hören vergehen. Doch der Mann wandte sich an seine Frau, die den Blick auf ihren Schoß gerichtet hielt. Er sagte: »Bella, sieh mich noch ein letztes Mal an.« Der Tee wurde schwarz. Die anderen flüsterten und lachten manchmal. Irgendwann fragte der Mann mit rauer Stimme: »Wann geht euer Zug zurück?« Sag was, dachte der Sohn und sagte: »Um drei.« Weil er es mit Kinderstimme sagte, schluckte er und versuchte es noch einmal mit seiner Überraschung: »Ich glaube, um drei.« Doch seine tiefe Stimme war ihm in die drei Hosen gerutscht. Mit glühenden Ohren und schwitzend wie ein Kindergartenkind in Kunstfaserstrumpfhosen saß er vor seinem Vater, der aufstand und plötzlich viel größer wirkte. Mit leuchtendem Rückenstreifen verließ er den Sprecherraum. Am nächsten Tag tauchte die tiefe Stimme wieder auf, doch jetzt war sie zu nichts mehr nütze.
Es ist also gut möglich, dass er zu den Versagern und Mutlosen gehört, zu denen ohne Mumm. Dass er sich zeitlebens lieber unter der Bettdecke verkriecht, in den Tag träumt und durch die Gärten streunt. Dass er lieber im Baum hockt und Birnen frisst.
Langsam trabt er los. Die Luft ist kühl und warm zugleich. Er läuft auf der Straße, mit streichenden Schritten, vorbei an der Eiche, an der Telefonzelle, am Gärtnerschuppen, am Pausenhof. Das alles liegt jetzt jenseits, auf der anderen Seite. Kein Auto ist unterwegs, und keine Menschenseele ist so früh wach. Auf dem Appellplatz vor der Schule kehrt er um und läuft auf der Straße zurück, die Lebensfreude und die Sonnenuhr im Rücken. Hinter der Kleingartenanlage trippelt er den Skihang hinunter und quert die Großwiese. Er springt über das Flüsschen, in dem der Pfarrer die Ostgroppe ansiedeln will, rennt unter den brummenden Hochleitungen hindurch, tritt auf Maulwurfshügel, Sauerampfer und getrocknete Kuhfladen. Am Fuß des Tafelbergs liegen der zerschnittene Wohnzimmerteppich und die Scherben der Ofenkacheln. Mit kurzen Tritten müht er sich hinauf, Kletten heften sich an seine Strümpfe, aus dem Augenwinkel erblickt er einen Goldfasan.
Von oben sieht er die Pleißenburg mit ihrem Grünspanhut, das Bruno-Plache-Stadion, den stolzen Bahnhof, in dem man besser ankommen als abfahren kann, er sieht das von Riesen gestützte Völkerschlachtdenkmal und das Doppel-M des Messegeländes, das Hochhaus der Karl-Marx-Universität, das die Form eines aufgeschlagenen Buches hat, das Zentralstadion mit seinen Flutlichtmasten und den dunkelgrünen Südfriedhof. Weit liegen seine Stadt und sein Land vor ihm. Lange Straßen zerteilen die große Senke. Es gibt keine echten Erhebungen, nur Halden und Hügel, keine Täler, sondern Gruben, keine Ströme, dafür Bäche und Flüsse, auf deren schwarzen Wassern heller Schaum treibt. Es gibt Rieselfelder, über die Stromleitungen gespannt sind, am Horizont ragen Schlote von Kraftwerken und Brikettfabriken auf.
Er dreht sich um und betrachtet sein Zuhause. Er denkt, dass der andere, dass Amon hierbleiben und auf alles achtgeben kann. Es leuchtet ihm nicht ein. Klein und spuckegrau lehnt die Haushälfte am Nachbargebäude. Die Blätter der Birke blinken nicht, die Biberschwänze sind matt, die Dachluke ist blind, und die Antenne sitzt schief. Auf allem liegt die Prägung eines Wasserzeichens, der Schatten seiner Netzhaut. Er schließt die Augen, um klarer zu sehen, um es sich ein für alle Mal einzuprägen, aber eine Unruhe ist in ihm, eine
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