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Das Haus am Abgrund

Das Haus am Abgrund

Titel: Das Haus am Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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einer Weile. »Schon seit Langem. Sie kehrt immer wieder ins Haus zurück. Keine Angst, Êdorian, sie wird rechtzeitig dort sein.«
    Keine Angst. Der alte Mann hatte doch einen Vogel! Und ich war nicht bewaffnet. Wenn ich wenigstens eins der großen Küchenmesser mitgenommen hätte oder das Beil. Oder ein Feuerzeug.
    Ich stürmte die Stufen hinauf und durch die Tür ins Haus. Was war es heute? Eine Ruine? Die schöne, düstere Halle?
    Ich schloss die Augen und ging in die Knie. Es war alles, alles auf einmal. Eine Gruppe von Dolmen. Ein wüster Steinhaufen. Eine Holzhütte, aus der Rauch aufstieg. Ein Tempel. Heathcote Manor. Eine Ruine, in der Schösslinge aus Schutthaufen wuchsen.
    Und ich war dort, tausendfach. Mein Ich war in den Zeiten verankert und breitete sich wie ein Pilzgeflecht von der Vorzeit b is zum Jetzt aus. Ich fühlte den faulen Zahn des Stallburschen, die Erkältung des Pagen, die Blutergüsse des verprügelten Kutschersohns, die Pockennarben des Küchenjungen, die Lungenentzündung des Schweinehirten. Ich war dabei, als ihre Herzen auf einen Wink der blassen Hand hin still standen, ihr Atem versiegte, sie an ihrem eigenen Blut erstickten, sie mit herausgerissenem Herzen ihr Leben verzuckten und ihr letzter Augenblick immer nur die finstere Gestalt Cenn Crúachs zeigte, der sich der gefangenen Winterbraut zuwandte – November in hundert Gestalten, weiß gekleidet, die Augen geweitet, dem Wahnsinn und dem Tode nahe.
    Ich fühlte jeden einzelnen meiner blutigen Tode, hörte das Lachen Cenn Crúachs, spürte den schwarzen Triumph des Hauses – und all das überschwemmte meine Sinne, überlud meinen Geist und ließ mich in eine tiefe, schwarze Besinnungslosigkeit fallen.

35
    NOVEMBER
    Sie hatte sich im Museum vergraben und Tante Eliette beim Vorbereiten der Museumsfeier geholfen. Sie hatte Kisten gepackt, Staub gewischt, aufgeräumt und Dinge auf den Speicher geschleppt, Vitrinenscheiben poliert und Exponate neu geordnet, Schildchen beschriftet und Kartons mit Prospekten aus dem Büro getragen, um das Regal im vorderen Raum damit zu bestücken.
    Tante Eliette freute sich sichtlich über Novembers Arbeitseifer. Aber am dritten Tag lehnte sie Novembers Angebot, das Archiv zu ordnen, mit einem energischen Kopfschütteln ab. »Liebes, das ist meine Aufgabe«, sagte sie. »Danke, dass du mir geholfen hast, hier Ordnung zu schaffen, das war dringend nötig. Aber jetzt solltest du dich wieder ein bisschen um dich selbst kümmern, hörst du? Ich habe sonst ein schlechtes Gewissen, weil ich dich ausgenutzt habe.«
    November protestierte, aber Eliette blieb hart. »Wenn du mir unbedingt noch helfen willst, dann könntest du ein paar Sachen einkaufen. Auf dem Küchentisch liegt eine Liste.«
    N ovember nahm den Einkaufskorb und das Geld und ging langsam zum Dorfladen, während der Korb gegen ihre Wade schlug. Sie fühlte sich grässlich und wusste nicht, warum. Jede Nacht träumte sie düstere Träume, in denen sie durch ein stilles, ganz und gar friedliches Haus ging und jemanden suchte. Sie öffnete jede Tür, sah in tausend schöne, stille, dunkle Zimmer, rief einen Namen, an den sie sich beim Erwachen nicht mehr erinnern konnte.
    Sie spürte unterdessen ständig die Gegenwart eines anderen Menschen, aber immer, wenn sie sich umdrehte, weil sie sein Atmen gehört hatte, das Rascheln von Stoff, das Geräusch, mit dem ein Fuß an eine Stufe stieß, jedes Mal, wenn sie die Hand ausstreckte, weil sie die Wärme und das Leben eines anderen Menschen an ihrer Seite spürte – jedes Mal sah sie in leblose Dunkelheit, fasste sie ins kalte, stumme Nichts.
    Heute Morgen war sie aufgewacht und hatte noch das Echo ihrer eigenen Stimme im Ohr: »Adrian!« Da wusste sie, wen sie in ihrem Traum an ihrer Seite spürte. Adrian. Er war die ganze Zeit da, auch wenn sie ihn nicht sehen konnte. Er ging mit ihr durch das riesige, stumme, leere Haus, in dessen Mauern nur noch Geister zu wohnen schienen. Er war an ihrer Seite, wie er immer schon an ihrer Seite gewesen war.
    Dieser Gedanke erschreckte sie mehr, als ein Spukbild es hätte tun können. Sie atmete scharf und tief ein und nahm den Korb in die andere Hand. Eier und Salz, dachte sie. Brot. Marmelade? Eine Packung Milch, Mineralwasser für Tante Eliette. Zigaretten. Briefmarken. Sie grüßte den alten Mr Gordon auf seiner Bank und nickte Rosie Sellick zu, die den Gehweg vor dem Haus ihrer Eltern fegte.
    D ie Glocke an der Ladentür bimmelte, und Lizzie rief von hinten:

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