Das Haus am Abgrund
raubte. Einem Griff, der mir das Genick brach. Einer Drehung, die mir mein eigenes Messer in die Rippen stieß. Ich sah mich fallen, bluten, sterben, wieder und wieder.
»Wie oft?«, fragte ich.
Der Roshi wiegte den Kopf. »In jeder Generation einmal«, sagte er sanft. »In deinem ersten Leben warst du ein Diener, ein Stallbursche, und du warst einer der Handlanger, der half, sie zu der alten Opferstätte zu bringen. Damals bist du das erste Mal g emeinsam mit ihr gestorben. Dann immer wieder. Er hatte sein Vergnügen an deinem zusätzlichen Blutopfer. An jedem Blutopfer, das er sich nehmen konnte.«
Die Geschichte klang vollkommen irrsinnig. Wenn es nicht der Roshi gewesen wäre, der sie mir erzählte, hätte ich laut gelacht und ihm einen Vogel gezeigt.
»So etwas passiert doch nur in Filmen«, sagte ich.
»Ja, in Filmen auch«, erwiderte der Roshi ernsthaft.
»Ist es mir niemals gelungen, sie zu retten?« Ich schwang die Beine aus dem Bett und angelte nach meiner Hose.
Der Roshi runzelte die Stirn. »Im späten 18. Jahrhundert hast du sie einmal vor Cenn Crúach bewahren können, indem du das Haus angezündet hast.« Er hob den Kopf und sah mich bedauernd an. »Du bist in den Flammen umgekommen.«
»Meine Güte.« Ich schauderte. »Warum erzählst du mir jetzt erst davon?«
Der Roshi sah seltsam traurig aus. »Ich bin nicht klüger als du, Êdorian. Ich weiß immer nur das, was du auch weißt.«
Ich hörte ihm nicht richtig zu, weil ich meine Hose, dann mein T-Shirt und einen Pullover anzog. »Wieso war ich in der Vergangenheit?«, fragte ich unkonzentriert. »Ich hätte mich doch in diesem Leben um die heutige November kümmern müssen. Nicht um ihre ... Großtante.«
Er reichte mir meine Jacke. »Du hast dich erinnert«, erwiderte er. »Du warst nicht wirklich in der Vergangenheit, nur in den Erinnerungen deines vorigen Lebens. Das hängt mit dem Ding in deinem Kopf zusammen, vermute ich.«
»Was für ein Durcheinander«, murmelte ich. »Wie habe ich es in meinem letzten Leben versaut?«
» Du hattest einen Unfall.« Der Roshi öffnete die Tür. »Einen Tag vor ihrem Geburtstag. Einen tödlichen Unfall. Wahrscheinlich wollte Cenn Crúach verhindern, dass du Heathcote Manor ein weiteres Mal abfackelst.« Er lächelte schwach.
Ich folgte ihm hinaus. Es war still im Haus. Draußen pfiff der Wind. »Ihre Schwester hat mich beschimpft. Wie kann sie das getan haben, wenn ich doch tot war?«
Der Roshi hielt sein Gesicht in den kalten Wind und schloss die Augen zu noch schmaleren Schlitzen. »Sie hatte immer einen Blick dafür«, sagte er. »Heute noch. Die Leute im Dorf haben Respekt vor ihr, aber sie halten sie auch für verrückt. Sie sieht Geister, wie du ...«
Ich stapfte stumm hinter ihm her. »Wohin gehen wir?«, fragte ich.
Der Roshi zeigte auf das Herrenhaus. »Es ist wieder so weit«, sagte er. »An diesem Ort ist jeden Tag, zu jeder Stunde Novembers Geburtstag. Dein Opfergang. Dein Tod.«
Ich blieb stehen und starrte ihn an. In mir brodelte Zorn hoch. »Du redest, als wäre das alles festgelegt. Wieso sollte ich nicht gewinnen?«
Er nickte und lächelte. »Weil du ihm nicht gewachsen bist, Êdorian. Du warst es nie. Er ist alt und böse, er ist mächtiger geworden in all den Jahrhunderten. Jedes Opfer hat ihn gestärkt – es ist ja nicht nur die Novemberbraut, die ihm ihre Jugend, ihre Kraft, ihr Leben und ihr Blut gibt. Das ganze Dorf gehört ihm. Jeder gewaltsame Tod gibt ihm Nahrung. Du bist nur einer, ein schwacher, todkranker Junge. Wie willst du ihn besiegen?«
Ich knurrte wie ein Hund. »Was schlägst du vor? Soll ich mir gleich hier die Kehle durchschneiden?«
E r legte den Kopf schief. »Keine schlechte Idee.«
Ich spuckte aus. So wütend wie in dieser Sekunde war ich noch nie in meinem Leben gewesen. »Du bist ein feiner Lehrer«, sagte ich und meine Stimme war heiser. »Wenn man wirklich mal einen Rat von dir braucht, dann laberst du nur Mist.«
Er nickte und lächelte bedauernd. »Dies ist nicht mehr die Zeit für kluge Lehren«, sagte er. »Jetzt geht es um Hauen und Stechen, Mord und Blutvergießen. Das ist nicht mein Fachgebiet, Êdorian. Ich kann dich nur begleiten und dir beim ehrenvollen Sterben zusehen. Es tut mir leid.«
»Mir auch«, fauchte ich und stapfte weiter. »Wo ist sie? Wie kommt sie hierher? Sie wohnt jetzt schließlich im Dorf.«
Ich hörte seine Schritte hinter mir. Er atmete schwer, ich ging zu schnell für ihn. »Sie hört den Ruf«, keuchte er nach
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