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Das Haus am Abgrund

Das Haus am Abgrund

Titel: Das Haus am Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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Zwillinge waren.
    Ich drehe mich um und renne hinaus, verfolgt von Samhains Weinen.
    Laufe hinaus. Renne blind, renne, bis ich nicht weiterkomme. Vor mir bricht der Weg ab. Ich stehe an der Klippe und blicke hinunter in die schwarze Tiefe, höre das Donnern der Wellen, d ie sich an den Felsen brechen, tief unter mir. Das Mondlicht zieht seine kalte Bahn über das aufgewühlte Wasser. Wolken hetzen über den Himmel, gespenstisch hell auf dem schwarzen Grund. Ich ringe nach Atem, starre auf das Wasser. Es ist Novembers liebster Ort, der Platz, an dem wir uns geküsst haben. Der Schmerz ist ungeheuer. Mein Herz krampft sich zusammen, als würde es von einem glühenden Speer durchbohrt, meine Kehle ist so eng, dass jedes Schluchzen wie Messerstiche schmerzt, mein Kopf droht zu zerspringen.
    Wie kann es sein? Wie kann ich es versäumt haben, rechtzeitig hier zu sein und das Böse zu bekämpfen, November zu retten, um mit ihr glücklich und zufrieden bis ans Ende unserer Tage zu leben? Ich liebe sie doch! In diesem Augenblick weiß ich, dass ich sie schon seit Hunderten von Jahren liebe, und seit Jahrhunderten scheitere ich daran, sie vor Cenn Crúach zu schützen, sie davor zu bewahren, das Opfer dieses blutgierigen, mörderischen Hauses zu werden.
    Ich knie auf dem Boden, unter mir die tobende, gischtende Dunkelheit aus Wasser, Schaum und kalter Luft. Ich bin gescheitert, ohne überhaupt versucht zu haben, sie zu retten. Sie ist tot und ich bin allein. Mein Blick fällt auf die silberne Straße aus Mondlicht. November hat den Anblick so sehr geliebt. Die Straße verschwimmt vor meinen Augen.
    Jemand räuspert sich dezent.
    »Wäre dies nicht der geeignete Augenblick, Master Adrian?«, sagt Moriarty in gedämpftem Ton. »Alles ist bereit. Wir könnten jetzt ohne Weiteres gehen.«
    Ich schüttle den Kopf und reibe mein Gesicht mit dem Ärmel trocken. »Ich gehe nicht mit Ihnen.« Taumelnd komme ich auf d ie Füße, auf einmal so müde und matt, dass ich kaum noch stehen kann. »November habe ich im Stich gelassen. Aber ihre ... ihre Enkelin ...« Ich verstumme. Nein. Das war der Fehler, der mich sorglos gemacht hat. Ich habe es versäumt, rechtzeitig hier zu sein, weil ich mich in Sicherheit gewiegt habe. Ms Vandenbourgh. Novas Großmutter.
    Ich beginne zu lachen, ein wütendes, hustendes Gelächter. Wie konnte ich nur so dumm sein? Wenn ich nur ein einziges Mal gefragt hätte, wie ihr Vorname ist – ein einziges Wort von ihr und ich wäre gewarnt gewesen.
    Ich bin mir des geduldigen Blicks bewusst, den Moriarty auf mich richtet. Hier, im Licht des kalten Mondes, sieht er nicht mehr aus wie ein grämlicher, dürrer Leichenbestatter. Er hüllt sich in die Dunkelheit wie in einen prächtigen Mantel. Sein Gesicht ist bleich und streng, die Augen strahlen so hell wie das Mondlicht selbst, und sein Haar liegt wie Rabengefieder um seine Stirn. Ich senke den Blick, einen Moment lang voller Angst und Ehrfurcht. Der dunkle Engel streckt seine Hand aus, schweigend, darauf wartend, dass ich sie ergreife.
    »Nein«, wiederhole ich, obwohl ich mich vor seinem Zorn fürchte. »Nein, ich komme nicht mit Ihnen. Noch nicht. Meine Aufgabe ist nicht beendet.«
    Er neigt den Kopf, tritt zurück in den tiefen Schatten, den das Haus über die Klippe wirft. Sein bleiches Gesicht wird zu einem geisterhaften Nebelfleck in der Dunkelheit. »Ich warte«, höre ich ihn flüstern.

34
    Ich erwachte in meinem Bett. Zerschlagen, mit einem dumpfen, matten Gefühl wie bei einer schweren Erkältung. Ich drehte den Kopf, weil ich ein Geräusch hörte, und sah, dass Jonathan im Sessel am Fenster saß und las. Ich räusperte mich. Meine Zunge war pelzig und die Kehle rau wie Sandpapier. Ich musste einen bösen Schnupfen erwischt haben. Und warum saß Jonathan an meinem Bett?
    »Jonty, ich habe Durst«, sagte ich. So heiser, als hätte ich die ganze Nacht gebrüllt.
    Er ließ das Buch beinahe fallen und riss den Kopf hoch. Starrte mich an, begann zu strahlen wie die aufgehende Sonne. »Er ist wach«, rief er laut und sprang auf. »Ary, mein Junge, mein Junge!« Er umarmte mich, aber so vorsichtig, als wäre ich aus Porzellan.
    Ich lachte, hustete und drückte ihn weg. »Was ist denn mit dir los?« Er half mir, mich aufzusetzen. Ich war klapprig wie ein altes Auto.
    Ich sortierte mich – da stand eins dieser scheußlichen fahrbaren Gestelle in der Ecke, an der sie im Krankenhaus immer die Tropfflaschen aufhängten. Mein Arm juckte und schmerzte, u nd als ich

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