Das Haus der bösen Mädchen: Roman
in ein Armenkrankenhaus eingeliefert und starb dort an einer Gehirnblutung. Da war er vierzig, genau wie ich jetzt. In diesem Alter muss man entweder sterben oder noch mal bei Null anfangen.
Bei Null anzufangen war natürlich angenehmer. Er stellte sich vor, er habe nicht vierzig Jahre reales Leben hinter sich, sondern einen Film. Nach jedem »Aufhören«, nach schlimmem Entzug und Depressionen, träumte er wieder seinen süßen Kindertraum von einem genialen Film, der ihm helfen würde, von der Vergangenheit loszukommen und noch einmal bei Null anzufangen.
Er würde seine Kindheit verfilmen: Ein dicker kleiner Junge, gemästet mit fetten Delikatessen, gequält mit einer Französisch-Spezialschule und Musikunterricht. Die Handlung würde er unterlegen mit dem peinigenden Kreischen der Schülergeige. Seine Mutter hatte einen großen Musiker aus ihm machen wollen. Die kleine Geige war für ihn zu einem mystischen Wesen geworden. Wenn er sie in die Hand nahm,sie gegen die Wange presste und mit dem Bogen die straff gespannten Saiten berührte, wurde sein Kopf von Schmerzen überflutet und sein Herz von Hass. Dieses glatte, stromlinienförmige, lackglänzende Wesen gab in seinen Händen nur scheußliches Kreischen und Quietschen von sich. Oleg mutmaßte, dass der Hass gegenseitig war. In den Händen der Lehrerin ertönte seine Geige in süßem Gesang und überschlug sich vor Glück, wie ein kleiner Hund bei der Begegnung mit dem geliebten Herrn.
In der Musikschule bekam er umfangreiche Hausaufgaben auf, und selbst an unterrichtsfreien Tagen musste er stundenlang fiedeln. Seine Eltern verbrachten den ganzen Tag auf ihrer Arbeitsstelle, hatten ihn aber von allen Seiten eingekreist wie einen Wolf bei der Treibjagd. Im Gegenzug für kleine Gaben an die Liftfrauen erhielten sie erschöpfende Auskunft, wann er aus der Schule gekommen war, ob er das Haus noch einmal verlassen oder Besuch gehabt hatte. Sie beschenkten sämtliche Lehrer und baten eindringlich darum, ihren Jungen hart anzufassen, ihnen genau zu berichten, wie er seine Hausaufgaben erledigte, wie er sich verhielt und mit wem er befreundet war.
Er konnte nicht einfach Fußball spielen, sich mit anderen Jungen auf den umliegenden Höfen und Gassen herumtreiben, auf geheimnisvolle stinkende Dachböden steigen und dort rauchen, Portwein trinken und obszöne Witze erzählen. Er war ein dicker, plumper, schüchterner Junge mit Geige. Und wäre so gern ein sehniger, sportlicher Kerl gewesen, den jeder kannte, respektierte und fürchtete.
Mit zwölf fing er an, seiner Mutter Zigaretten zu stehlen, aber allein auf dem Balkon zu rauchen war langweilig. Im Schlafzimmer der Eltern übte er vorm Spiegel den lässig schlendernden Gang der Kriminellen, mit tief sitzender Hose und hochgekrempelten Hosenbeinen. Er schnitt Grimassen, kopierte den hochmütig abwesenden Gesichtsausdruck, mit dem seine Altersgenossen fluchten und durch die Zähnespuckten. Er malte sich mit einem Kugelschreiber Kreuze und Totenschädel auf die Brust und bearbeitete seine Fingerknöchel mit Sandpapier, damit sie aussahen, als hätte er jemandem einen Schlag in die Visage verpasst.
Der riesige dreiteilige Spiegel war der stumme Zeuge seiner verzweifelten einsamen Phantasien. Der Spiegel sah auch die beschämenden Minuten, wenn die Uhrzeiger auf acht zugingen und der Junge hektisch die Spucke vom hellen Läufer und die Kugelschreiberspuren von seinem Körper wischte, die blutig gescheuerten Fingerknöchel mit Eau de Cologne betupfte, nach der auf dem Elternbett abgelegten Geige griff, und, den Bogen wie wild über die Saiten führend, in sein Zimmer rannte. Die Mutter kam immer gegen acht nach Hause, und wenn sie hörte, dass der Junge übte, betrat sie die Wohnung mit einem Lächeln und war den ganzen Abend lieb zu ihrem Sohn.
Wenn sie Besuch hatten, kam früher oder später der Moment, da die Mutter wie nebenbei fragte: »Willst du uns nicht etwas vorspielen, Oleg?«
Er hasste sich dafür, dass er es nicht fertigbrachte, zu erwidern: »Nein, Mama.«
Er senkte bescheiden den Blick, nickte, nahm das verdammte glatte Holzding aus dem Kasten und stellte sich mit glühenden Ohren und nassen Achselhöhlen mitten ins Wohnzimmer. Die Gäste verstummten respektvoll und mit gerührtandächtigen Mienen. Auch bei den unerträglichen Tönen, die das kleine Ungeheuer in Olegs schweißigen Händen von sich gab, blieben sie ernst, hörten ergeben und geduldig zu, klatschten anschließend Beifall und bestätigten
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