Das Haus der bösen Mädchen: Roman
die Fünfzimmerwohnung und seine hochgestellten Eltern. Für Oleg Solodkin selbst, den hässlichen, erfolg- und arbeitlosen Looser, interessierte sich niemand.
Nach dem Studium konnte er lange keinen rechten Platz im Leben finden. Er schrieb ein paar Drehbücher, aber es wurde nur langweiliger Mist. Hin und wieder verfasste und publizierte er Filmkritiken. Er war nach wie vor der Sohn der hochgeachteten Galina Solodkina, nicht mehr.
Fünftes Kapitel
In der Spielzeugfabrik, in der Lilja Kolomejez gearbeitet hatte, sprach man über sie mit Respekt und reagierte erschüttert auf die Nachricht von ihrem Tod.
Hauptmann Iwan Kossizki trank den Kaffee, den ihm die gesprächige junge Sekretärin Natascha angeboten hatte. Sie schien von allen befragten Kollegen am besten informiert zu sein, darum hörte er sich zwanzig Minuten lang geduldig an, warum man in Russland noch immer kein anständiges Spielzeugherstellen konnte; wie sie einmal für eine internationale Ausstellung eine Eisenbahn restauriert hatten, die bis 1917 dem kleinen Fürsten Trubezkoi gehört hatte und in dessen Lok sie ein Geheimfach mit einem Saphir von der Größe eines Taubeneis gefunden hatten; und wie traurig alle Versuche, eine russische Barbie zu produzieren, gescheitert waren.
»Dumm, wie wir waren, haben wir ein paar Werbeclips fürs Fernsehen machen lassen und ernteten dafür eine Plagiatsklage von der Firma Mattel. Es hätte beinahe einen internationalen Skandal gegeben, stellen Sie sich vor, unser kleiner Betrieb wurde auf eine Million Dollar verklagt. Lachhaft. Doch dann kam eine Anweisung aus dem Ministerium, und wir mussten die Produktion einstellen. Das war natürlich schlimm für Lilja Kolomejez. Sie hatte schon eine Kollektion von Kleidern entworfen, eine ganze Puppenwelt. Wissen Sie, es klingt vielleicht komisch, in dem Zusammenhang von Kunst zu reden, aber Lilja war wirklich eine Künstlerin.« Die Sekretärin seufzte. »Nein, ich kann es einfach nicht glauben, dass sie ermordet wurde. Das ist doch barbarisch. Sie hatte so viele Ideen und Pläne, so eine Designerin bekommen wir nie wieder. Eine seltene Kombination von Fleiß und Talent. Allerdings finde ich, man kann es auch übertreiben. Wenn man noch so jung und hübsch ist wie sie … Wie sie war …« Natascha holte ein Taschentuch hervor und schnäuzte sich geräuschvoll. »Nein, ich kann sie mir nicht tot vorstellen. Sie hat so vieles nicht geschafft, hatte keine Familie, keine Kinder, nur ihre Arbeit und keinerlei Privatleben.«
»Wirklich überhaupt keins?« Kossizki wiegte zweifelnd den Kopf.
»Vielleicht mal in ihrer Jugend, aber darüber weiß ich nichts. Sie war sehr verschlossen, so verschlossen, dass nicht einmal über sie getratscht wurde. Sie wurde einfach übersehen. Weil sie niemandem Details aus ihrem Privatleben mitteilte, dachten alle, sie hätte eben keins. Nur ihre Nichte, sonst niemanden. Anfang Juni ging Lilja in Urlaub, sie sagte,sie wolle mit ihrer Nichte für zehn Tage nach Bulgarien. Ach ja, Anfang Mai hatte sie eine Woche unbezahlten Urlaub, weil eine Freundin ihrer Mutter krank war.«
»Wissen Sie vielleicht ihren Namen?«
»Ich glaube, sie hieß Julia. Ihren Familiennamen hat Lilja nicht erwähnt, aber das ist jetzt auch egal. Die Alte ist gestorben. Sie hatte Krebs. Nach ihrem Tod war Lilja verändert, sie war sehr düster und weinte oft. Natürlich nicht vor anderen, aber man sah es an ihren Augen.«
»Trotzdem, wer könnte denn den Familiennamen dieser Frau wissen?«
»Fragen Sie in der Buchhaltung, die müssen noch irgendwelche Unterlagen haben, vielleicht eine Kopie der Sterbeurkunde. Lilja hat vom Betrieb eine Unterstützung für die Beerdigung bekommen.«
»Da werde ich unbedingt nachfragen.« Kossizki nickte. »Sagen Sie, hat die Nichte bei ihr gewohnt?«
»Nein. Lilja sagte, das Mädchen sei auf einem Internat außerhalb von Moskau, aber was das für ein Internat ist und wo genau es sich befindet, das erzählte sie nicht. Ich hab ein paarmal versucht, sie auszufragen, mein Sohn ist vier, und ich will mich beizeiten um eine gute Schule kümmern. Sie erklärte nur, es sei ein privates Internat, man nehme dort nur besonders begabte Kinder ab dreizehn mit Kenntnissen in zwei Fremdsprachen, Englisch und Französisch. Komisch – woher nahm sie bei unserem Gehalt das Geld für ein privates Internat?«
»Die Nichte hat also niemand je gesehen?«, vergewisserte sich Kossizki.
Natascha schüttelte den Kopf. »Nein, niemals. Ich wollte mal ein
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