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Das Haus der Bronskis

Das Haus der Bronskis

Titel: Das Haus der Bronskis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Marsden
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zinkähnlicher Silberfarbe angemalt und verziert mit einem Relief, das eine blühende Blume, eine Weizengarbe, eine Milchkanne, eine dicke Kuh und eine Sichel zeigte.
    Den Kern der Sowchose bildeten Betongebäude; das größte hatte oben auf dem Dach eine digitale Anzeigetafel. Die Anzeige wechselte etwa alle dreißig Sekunden   – die Zeit veränderte sich zur Temperatur und die Temperatur zu einer rätselhaften »10«.
    »Was ist ›10‹?« fragten wir.
    »Ganz passabel . . .«
    »Nein, was wird da gemessen?«
    »Radioaktivität. Tschernobyl.«
    »Igitt!« sagte Zofia.
    Seitlich von einem der neuen Gebäude war eine kleine gras- und fliederbewachsene Insel. In der Mitte dieser Insel stand eine Zementbüste Lenins. Er zeigte sein Profil, das Kinn vorgereckt zu der langgestreckten klassischen Front eines
dwór
.
    »Ja«, sagte Zofia, »das ist es. Das ist das Haus!«
    Wir gingen hinein. Rechts war der ehemalige Salon. DieWände waren mit purpurroten Stoffbahnen drapiert; man sah eine Bühne, ein elektronisches Schaltbord und zwei große Lautsprecher. Auf der purpurnen Drapierung hatte man eine Reihe von Gipsdarstellungen weiterer Weizengarben, dicker Kühe und Milchkannen befestigt.
    Der Raum, erklärte man uns, war der Hochzeitspalast der Sowchose. In anderen Zimmern waren ein Tanzsaal, eine Ambulanz und Büros untergebracht. Frauen mit freundlichem Gesicht saßen an leeren Schreibtischen, begierig, uns Tee zu machen, zu reden, sich zu beklagen.
    Im Stockwerk darüber waren weitere Büros. Sie waren bereits aufgegeben. Schränke standen offen, kippten Jahre von Akten und Quoten auf den Boden. In einem der Räume lagen sie so hoch, daß man nicht einmal die Dielenbretter sehen konnte. Dazwischen verstreut waren Dutzende von Plakaten, die das Lob der Kartoffel sangen oder die Trunksucht anprangerten. Eine Taube war in den Raum geraten und flog vergeblich hin und her: hin zum hellen Fenster, zurück in die Dunkelheit, hin zum Licht, zurück ins Dunkel. Der Kot mehrerer Tage war über die Sowchosenakten verstreut.
    Als wir die Sowchose verließen, zeigte der Radioaktivitätsmesser »12«.
     
    Helena kam im Sommer 1914 das erstemal nach Klepawicze. Sie war sechzehn. Die Ledersitze der Pferdekutsche waren heiß von der Sonne; unter ihnen knarrten die Sprungfedern. Dann und wann raschelte eine Zeitung ihr gegenüber, die Zeitung von Pan Stanisław Broński, dem Besitzer von Klepawicze. Knurren und Pfeifenrauch stiegen über dem Blatt auf; ein blanker Stiefel schwang reizbar darunter hin und her.
    Helena war wütend. Erst diesen Morgen hatte ihre Mutterihr angekündigt, daß sie zwei Wochen bei den Brońskis verbringen werde, einer Familie, die in ihren Augen barbarisch und mittelalterlich war. Aber sie wußte, daß sie keine Wahl hatte; in solchen Dingen wurde über sie bestimmt.
    Sie fuhren durch die Grenzmark des Brońskischen Landguts. Als die Wälder lichter wurden und die Felder begannen, legte Pan Broński seine Zeitung hin und richtete das Wort an Helena.
    »Na, Mädchen, was weißt du denn vom Land?«
    »Ein bißchen«, sagte sie.
    Er stieß einen Finger aus dem Fenster. »Also, was ist das für ein Vogel?« fragte er.
    Helena sah einen großen grau-weißen Vogel, er flog niedrig, mit wellenartigen Flügelbewegungen. »Eine Kornweihe?«
    Er nickte. »Ein Weibchen. Und das Getreide?«
    Nichts stand höher als ein paar Zentimeter, und alles sah wie frischgesätes grünes Gras aus.
    »Roggen.«
    »Nicht Gerste?«
    »Nein, die wäre noch nicht aufgegangen.«
    Pan Broński zog eine Augenbraue hoch und nickte. »Blöd ist sie also nicht.«
    Die Kutsche kam aus einer langen Kastanienallee hervor, und die Straße berührte gleich einer Tangente die Biegung des Flusses. Helena sah die schnelle Strömung sich kräuseln, wo sie das nahe Ufer gelbbraun färbte. Ein, zwei Weiden beugten sich über das Wasser wie zottelige Angler; dahinter waren Feuchtwiesen und rotbunte Kühe knietief im Riedgras. Weit unten, stromabwärts, schnitt der Fluß ein tiefes V in den Wald.
    »Oh, ist das schön!« rief sie aus und hielt sich schnell den Mund zu. »Es tut mir leid.«
    Pan Broński sah sie flüchtig an; fast lächelte er.
    Die Straße führte auf eine niedrige Mauer und ein Paar greifengekrönte Torpfosten zu. Die Kutsche fuhr dazwischen hindurch, der Kies knirschte. Vor dem Haus war ein Rasenoval.
    Die Pferde hielten. Die vier Brońskibrüder, teils in dunklem Gehrock, teils in Uniform, hatten sich zu ihrer Begrüßung aufgereiht.

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