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Das Haus der Bronskis

Das Haus der Bronskis

Titel: Das Haus der Bronskis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Marsden
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Geschichte ohne Gefühlsregung. Viele hatten uns erzählt, wie gut das Leben früher war, das Leben vor dem Krieg. Pani Jadzia hatte keine derartigen Illusionen: es war ganz genauso schlecht gewesen.
    Während der deutschen Besetzung war sie eines Morgens zur Kirche gegangen, der Kirche von Gawja, die eine gute Viertelstunde weit weg war. Auf dem Heimweg hatte sie Schüsse gehört. Als sie zu Hause ankam, waren die Soldaten schon fort. Ihr Vater, ihre Mutter, drei Brüder und zwei Schwestern lagen tot bei den Buchen.
    Pani Jadzia schwieg einen Augenblick, aber ihr Gesicht blieb ausdruckslos.
    Kurz nach dem Mord an ihrer Familie heiratete Pani Jadzia. Ihr Mann zog zu ihr in den Wald. Er half ihr, die Schaf- und Bienenhaltung und die Feldarbeit zu übernehmen. Jede Woche ritt er nach Nowogródek, um Vorräte zu besorgen. Eines Tages kehrte er nicht zurück; er war von einem deutschen Panzer überfahren worden. Dann kamen die Roten Partisanen aus dem Wald und brannten alles nieder.
    Ihren zweiten Mann hatte Pani Jadzia kurz nach dem Krieg geheiratet. Eines Abends lehnte sich jemand durchs Fenster und erschoß ihn; es gab Gerüchte über die eine oder andere Geliebte. Ihr dritter Mann war Trinker, und sie verließ ihn. Vor einigen Jahren war eine Wisentherde durch ihren Zaun gebrochen, hatte ihre Pflanzen zertrampelt und die Bienenkörbe umgeworfen. Jetzt hatte sie nur noch ihre Bienen, ihre Hunde und eine Kuh, und zur Heumahdkam ihr Sohn und half ihr. Ja, sagte sie, Gott habe sie mit einem guten Sohn gesegnet, einem wohlgeratenen, starken und tüchtigen Sohn, der ihr beim Heuen half.
    Bei unserem Aufbruch schenkte sie uns einen kleinen Krug Honig; ich habe nie einen solchen Honig gekostet wie den von Pani Jadzia.
     
    Auf dem Rückweg nach Mantuski schloß sich der Kiefernwald wieder um uns. Wir kamen an einer Gruppe von Dorfbewohnern vorbei, die Kartoffeln aus einem Erdkeller holten.
    »Das Hundegrab«, flüsterte Zofia.
    »Was?«
    »Wenn sie fragen, was wir hier tun, sagen wir ihnen: ›Wir suchen nach dem Hundegrab.‹ Sie werden uns aus hundert Augen beobachten und sich notfalls sofort auf uns stürzen.«
    Für mich war das Silber inzwischen fast belanglos geworden. Aber ich hätte es für schäbig gehalten, nicht wenigstens den Versuch zu machen.
    »An dem Morgen damals«, erläuterte Zofia, »hieß es, die Russen seien so um fünf einmarschiert. Alle waren in Panik, alle rannten herum wie die Irren. Mama und ich gingen in den Wald. Das Silber hatten wir in Pilzkörben dabei. Wir gingen etwa fünfzehn Minuten, bis wir zu einer Schonung gelangten.«
    Wir waren wieder bei den Überresten des Hauses angekommen und lenkten unsere Schritte in den Wald.
    »Ja, es war in dieser Richtung. Erst kamen Bäume, dann offenes Gelände und dann die Schonung.«
    Die Bäume hörten eher auf, als Zofia erwartet hatte. »Ah . . . Sie müssen hier ein Stück Wald gerodet haben . . . Da lang! Nach links.«
    Wir gingen am Wiesenrand entlang, bis wir die Bäume auf der gegenüberliegenden Seite erreichten. Es waren hohe, in Reihen gepflanzte Kiefern.
    »Hier muß es sein!« sagte Zofia. »Die Schonung! Und nun: siebzehn für mein Alter, einundvierzig für Mamas. Die siebzehnte Reihe und der einundvierzigste Baum!«
    Ich fing an zu zählen. Bei siebzehn ging ich quer in die Baumreihen hinein und fand mich sofort umgeben von jener eigentümlich ahnungsvollen Stimmung des Waldes. Der Boden war bedeckt von einem dicken Kissen aus Kiefernnadeln. Spinnweben hingen in der unbewegten Luft. Ein oder zwei Bäume waren umgefallen und ihre schlanken Stämme ins Unterholz eingesunken. Wo Lücken waren, fiel die Sonne durch den Nadelbaldachin auf den Waldboden wie Licht in eine Kathedrale.
    Neunundzwanzig, dreißig . . . Bei einunddreißig gelangte ich an einen schmalen Pfad. War er vor fünfzig Jahren schon dagewesen?
    Ich hörte Zofia vom Rand der Pflanzung rufen. »Da kommt jemand. Beeil dich!«
    Auf der anderen Seite des Pfads gingen die Bäume weiter. Fünfunddreißig, sechsunddreißig, eine Lücke bei siebenunddreißig, neununddreißig, vierzig, einundvierzig.
    »Beeil dich, Phiilip!«
    Ein dicker Ast lag quer über dem Graben, ich zerbrach ihn. Ich grub etwa einen halben Meter tief. Der Boden war weich und krümelig. Nichts zu finden. Ich grub etwas tiefer. Noch immer nichts.
    »Phiilip!«
    Mit jeder Station unseres Wegs hierher war mein Vertrauen in Zofias Orientierungssinn weiter geschwunden. Daß die Richtung vom Haus aus stimmte, daß dies

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