Das Haus der Bronskis
Krähensprößlinge schwatzen hinter mir . . . dieselben Wälder, dieselben Wiesen . . . Jahrzehnte sind vergangen . . . und nun diese wortlose Verzauberung – dieser Verlust, diese Trauer, diese Überraschung –‹«
Sie blickte kurz von dem Blatt auf. »Nein . . .
›zdumienie‹
. Das ist stärker als Überraschung . . . ›Staunen‹.« Sie las weiter: »›. . . was ist aus jenem Wasser geworden, was aus jener Zeit . . . hohe Wasserfluten – zauberisch – mit sich beschäftigt– die meine Sterne und meine Fische kitzeln. Ich eile weiter zum Meer, wie es mein Los ist.‹«
Sie schaute auf den Fluß. »Es ist merkwürdig. Hier scheine ich nur in diesen Verlustformeln schreiben zu können. Und nur auf polnisch.«
Am frühen Abend kamen unsere Freunde, der Doktor aus Iwje mit seiner Familie, zu einem Picknick herüber. Wir fuhren durch den Wald und gelangten weiter flußaufwärts aus den Bäumen heraus. In den Flußniederungen am anderen Ufer weidete verstreut Kolchosenvieh. Die Frau des Doktors lud die Eßsachen aus; wir übrigen gingen in den Wald, um Holz zu sammeln.
Der Doktor war in bester Laune. »In Ihrem Land können Sie das nicht tun. Sie können nicht einfach in den Wald gehen und sich Holz holen! Alles gehört jemandem, hab ich nicht recht? Aber hier haben wir Sozialismus! Wem gehört schließlich dieser Wald?«
Ich blinzelte Zofia zu. »Dir!«
Bis das Feuer heiß genug war zum Kartoffelkochen, dämmerte es schon. Der Rauch stieg in der unbewegten Luft auf und verflocht sich mit dem Waldsaum. Die Frau des Doktors wickelte einen Njemenhecht aus einer Zeitung; der Doktor biß den Plastikverschluß einer Wodkaflasche ab und spuckte ihn aus. Die Kolchosenkühe wurden aus den Niederungen weggetrieben, auf trockeneres Weideland. Der Fluß drängte weiter, gen Westen.
Ein wenig später, nach viel Hecht und Kartoffeln und reichlich Wodka, verließen Zofia und ich die anderen und wanderten am Fluß entlang. Der Mond stand rot und zwiebelförmig über dem Wald. Das gedämpfte Quarren einer Waldschnepfe tönte aus den Bäumen; der einzige andere Laut war das ferne Geplauder am Feuer.
Zofia blieb stehen und ließ ihren Blick über die Flußuferschweifen. »Fünfzig Jahre habe ich mich abgemüht, mir dies hier lebendig zu erhalten . . .«
Unser Herumreisen hatte ihre grauen Locken zerzaust; ihre Augen, traurig wie immer unter den schweren Lidern, blickten ruhig. »Jetzt kommt mir alles wieder.« Sie lächelte. »Ich erinnere mich an die Geräusche, die das Eis im Winter auf dem Fluß machte – es knallte wie Gewehrschüsse. Und zu dieser Stelle bin ich immer geritten. An einen Tag erinnere ich mich besonders. Ich war ungefähr vierzehn und hatte ein Pony, das Delilah hieß. Da drüben habe ich es angebunden. Keine Menschenseele weit und breit, also habe ich alles ausgezogen und bin im Fluß geschwommen. Das war natürlich verboten! Aber meine Mutter war nicht da, und ich weiß noch, wie ich damals, hier am Fluß, gedacht habe, daß nun auf einmal alles möglich sei.«
Sie hielt inne. »Wie sonderbar das ist, jener Tag erscheint mir jetzt wie der Anfang der Welt.«
Wir kehrten nach Minsk zurück. An unserem letzten Abend, dem letzten Abend in Weißrußland, waren wir zu einem »Dichterabend« im Literaturhaus, dem Dom Literatury, eingeladen.
»Was meinst du, Phiilip, was das sein kann, ein ›Dichterabend‹?«
»Keine Ahnung, Zosia.«
Wir versammelten uns mit zwanzig oder dreißig anderen in einem Raum im Obergeschoß. Nach einer Reihe von Lesungen, einem Lied, weiteren Lesungen, weiteren Liedern kamen die Reden. Jeder hielt eine Rede – Reden auf Dichter, Reden von Dichtern, Reden auf das Weinkeltern, auf die Lyrik, auf die neue Ära der Unabhängigkeit, auf Weißrußland. Ich wurde gebeten, eine Rede zu halten, undsprach über den Nationalismus und seine Gefahren, über das Risiko, daß sich neue Bruchlinien in Europa herausbilden könnten – bis ich merkte, daß keiner ein Wort Englisch verstand. Zofia hatte mit ihrem Polnisch etwas mehr Glück.
»Ich bin eine Polin«, verkündete sie, »die ihr Land verließ, als die Russen 1939 einmarschierten, und ich bin jetzt zurückgekommen, um zu sehen, was geschehen ist. Meine Mutter hat 1918 eine Weile in Minsk gelebt, und auch sie ist geflohen. Sie war in Minsk in jemanden verliebt, doch die Bolschewiken kamen und vertrieben sie. Und nun, wo sie fort sind, habe ich zurückkehren können. Vielleicht sollten wir darauf
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