Das Haus der Bronskis
ie O’Breifnes
verbrachten den Frühling 1919 in Warschau, einem freien Warschau. Warschau war in jenem Frühjahr voller Leben. Auf allen Plätzen wurde diskutiert, in allen Zeitungen regierte das Pathos; die Ufer der Weichsel waren von Löwenzahn gesprenkelt. Helena lernte viel, ihr Ziel war die Krakauer Universität.
Unterdessen fiel die ganze Anspannung der letzten Monate von Helenas Mutter ab. Sie entdeckte eine neue Sorte polnischer Zigaretten und wurde auf einmal heiter und wohlwollend. Sie kaufte Helena ein weißes Baumwollkleid und einen weißen Hut und führte sie zu einem jüdischen Fotografen beim alten Schloß.
Zofia hat diese Aufnahme in Cornwall noch; es ist die, auf der Helena mit ihrer Kette spielt. Ihr Kopf ist leicht zur Seite geneigt; sie sieht scheu und verletzlich aus. Aber ihr Blick zeugt von kühler Entschlossenheit. Das Foto hat etwas an sich, sie hat etwas an sich, das den Wunsch in einem weckt, es wieder und wieder anzusehen, und niemand sah es häufiger an als Helena selbst; sie gab zu, so von Eitelkeit durchdrungen gewesen zu sein, daß sie ganz beleidigt war, wenn sie an einer Gruppe Soldaten vorbeikam und diese sich nicht alle nach ihr umdrehten.
Etwa um diese Zeit brach Piłsudski von Warschau auf und zog ostwärts. Sein Plan war, Wilna zu erobern. Durch eine Reihe schlauer Manöver und Kavallerieattacken stürzte er die bolschewistischen Garnisonstruppen in Verwirrung. Nach zweitägigen Straßenkämpfen zog sich dieRote Armee zurück. Piłsudski – selbst in Wilna – erließ eine Proklamation:
Ich, der ich in diesem unglücklichen Land geboren wurde, bin wohlvertraut . . . mit seinem Zustand andauernder Unterwerfung . . . Nun soll endlich in diesem Land, das von Gott verlassen zu sein schien, Freiheit regieren . . . Die polnische Armee bringt euch allen Freiheit und Unabhängigkeit . . .
Nicht alle stimmten dem zu. Die Litauer betrachteten die Polen nicht als Befreier, sondern als Besatzer. Die Ostgrenzen des neuen polnischen Staats mochten sich zwar ausdehnen, waren aber alles andere als sicher. Helenas Mutter hatte keine Eile zurückzukehren. Im Mai ging sie mit der Familie für den Sommer nach Süden, auf das Landgut einer Kusine bei Krakau.
Das Herrenhaus, sagt Helena, war wie Platków vor dem Krieg: heil, mit verglasten Nußbaumvitrinen, bemalten chinesischen Paravents und blinkendem Silber. Sie haßte es. Es trug nur dazu bei, sie daran zu erinnern, daß sie immer noch kein Heim hatten, daß auf ihrem eigenen Grund gekämpft wurde, daß sie kein Geld hatten.
Hinzu kam, daß Tante Wanda, der das Haus gehörte, Dinge sagte wie: »Natürlich, Helenas Schönheit ist von der Art, die sich nicht hält« oder »Intelligenz ist bei einem Mann ganz in Ordnung, aber bei einer Frau bringt sie nur Unglück«.
Helena schrieb an das Ursulinenkloster in Krakau. Sie schrieb, sie habe in Petersburg Englisch unterrichtet, und Mutter Augusta war bereit, sie einzustellen. Sie fuhr mit dem Zug hin, und man gab ihr ein kleines blautapeziertes Zimmer mit einem Bett und einem Schreibtisch. Sie liebtedas Zimmer. Ihre frische Unabhängigkeit brachte ihre Ordnungsliebe zum Vorschein, und sie stapelte ihre Bücher der Größe nach, richtete ihre drei Paar Schuhe wie Soldaten bei einer Parade aus und fing ein Tagebuch an. Auf die erste Seite schrieb sie auf englisch: »The Story of Helena O’Breifne, teacher of English, lover of animals, residant [sic!] of the House of Ursuline Nuns, ancient city of Cracow, Poland.«
Und auf die nächste Seite:
Wie die liebe gute Helenka den Tag verbringt!
7.00 h
Messe.
7.30 h
Frühstück mit den Nonnen (Milch, Brot, Kirschmarmelade).
8.00 – 12.00 h
Unterricht im Kloster.
12.30 h
Mittagessen (in einer Molkerei – Suppe, Nudeln, Klöße)
14.00 – 16.00 h
Universität (Geschichte bei Professor Rydel).
16.30 – 22.00 h
Privatschülerinnen.
22.30 h
Kaltes Abendessen im Kloster (kiełbasa, Käse), Unterricht vorbereiten.
Sie führte Buch über ihre Einnahmen und Ausgaben in einem kleinen roten Notizbuch, nahm jeden Monat die Hälfte dessen, was ihr verblieben war, und tat sie in die Armenkasse des Klosters,
dla biednych
. Den Rest sparte sie, und hatte im November so viel beisammen, daß sie sich ein taubengraues Kleid, Glacéhandschuhe und zwei Paar Schuhe leisten konnte. Sie korrespondierte wöchentlich mit Józef, ließ sich das Haar modisch kurz schneiden und gab nie den
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