Das Haus der Bronskis
Fuß der Treppe, während die anderen die Diele und die von ihr abgehenden Flure bevölkerten.
Hinterher standen die Dorfbewohner Schlange, um ihm den Amethystring zu küssen. Da sie sich unsicher waren, wie man mit einem Bischof verfuhr, ließen sie ihm Honig und Eier da, was er mit Freuden annahm, nur um diese Geschenke anschließend über verschiedene Kanäle wieder ins Dorf zurückzudirigieren.
Am Tag nach Weihnachten brach Onkel Bischof von Platków zu seiner Investitur nach Wilna auf. Helena und ihre Mutter begleiteten ihn, sie reisten zu dritt in der von Stefan kutschierten alten
bryczka
.
Jahre später urteilt Helena, daß dies die kälteste Reise war, die sie je unternahm. Jeden Tag blies ein scharfer Nordostwind. Die Pferdeschnauzen erforen und wurden weiß. In Stefans Bart wuchsen Eiszapfen. In der offenen Kutsche in dicke Pelze gemummt, sah Helena vereiste Zweige, grauen Himmel und zugefrorene Seen endlos an sich vorüberziehen.
Die erste Nacht verbrachten sie in einer Herberge, die von einem älteren jüdischen Ehepaar geführt wurde. Wegen der Kälte drängten sich alle in einem Raum. Sie aßen gefüllten Hecht und tranken jüdischen Met. Die Fenster waren von Eisblumen zugewuchert. Nach dem Essen kratzte der Alte auf seiner Fiedel und sang dazu. Dann breiteten sie ihre Pelze aus und legten sich schlafen, während die Wölfe vom Wald her heulten.
In der Nacht träumte Helena von ihrem Vater. Er versuchte ihr etwas zu sagen; er stand am Saum eines reifbedeckten Waldes und rief etwas, aber seine Worte verloren sich im Wind. Sie mühte sich, näher hinzugelangen, doch der Schnee war zu hoch. Sie versuchte, die Beine frei zu bekommen;sie wand sich und schwankte. Der Schnee ließ sie nicht los. Ihr Vater stand regungslos am Waldrand und rief. Sie wachte auf und zog sich den Pelz bis unters Kinn. Eine Weile lag sie so da und schaute auf das letzte Glimmen des Feuers. Am Morgen fand man eines der Pferde erfroren in seiner Box.
Sie kamen erschöpft in Wilna an. Alles hatte sich verändert. Ihr Haus in der Mała Pohulanka war unbewohnt, alle Läden waren geschlossen. Sie mieteten Zimmer bei Madame Jelenska, die wegen ihrer Leidenschaft für gute Werke als »Päpstin von Wilna« bekannt war.
Wilna selbst war verwahrlost und grau. Die Farben der Gebäude waren verblaßt; Rostspuren zogen sich an den Mauern hinunter. Die wenigen Menschen, die durch den ungeräumten Schnee wankten, trugen zerlumpte Schals und Schultertücher. Hohlwangige Soldaten der litauischen Armee, ebenso überrascht wie alle anderen, die Uniform ihres eigenen Landes zu tragen, patrouillierten in den Straßen.
»Diese Litauer«, höhnte Helenas Mutter, »haben keine Ahnung, was Fröhlichkeit ist. Wenn sie Polen wären, wüßten sie, wie man feiert.«
Onkel Augustus’ Investitur fand am nächsten Tag statt. Die Stanislauskathedrale war eiskalt, aber voller Menschen. Helena hatte sich einen langen grauen Rock geliehen und eine dunkle Filztoque. Sie trug eine Aquamarinkette. Ihre Mutter und sie standen in der Nähe des Altarraums. Sie sah Onkel Augustus sich auf den Altarstufen niederwerfen, das Kinn im Staub. Sie sah, wie die Priester ihn mit flackernden Kerzen umstanden. Sie hörte die Chöre und ihre Weisen, das Donnern der Orgel und fühlte die alte Glut ihrer Vorkriegsfrömmigkeit.
Nach drei Stunden wandte Onkel Augustus, nun Bischofvon Riga, sein Gesicht der Gemeinde zu. Er hob die Arme, um den Segen zu erteilen. Am Eingang der Kathedrale erhob sich ein Flüstern und Geraschel. Es lief durch die Seitenschiffe, zwischen den grünen und weißen Säulen hindurch, breitete sich aus in der kuppelgekrönten Kasimirkapelle mit ihren blutroten Marmorwänden und den Silberstatuen polnischer Könige.
»Riga ist gefallen! Die Bolschewisten haben Riga eingenommen!«
Anstatt also sein neues Amt anzutreten, fuhr Onkel Augustus mit den anderen nach Platków zurück. Er lud seinen Bischofsmantel sowie die Schatulle mit Brustkreuz und Ring auf, zog sich an der
bryczka
hoch und stieg ein. Dann fuhren sie wieder drei Tage durch die schneeverkrusteten Wälder.
Die folgenden Tage in Platków – die letzten der Weihnachtszeit – waren turbulent. Alle holten sie ihre gute Laune hervor; sie verdrängten die Jahre der Zerstörung; kurz, sie dachten nicht mehr an die Bolschewisten. Es gab Tanzabende und Gesellschaftsspiele, und an den Nachmittagen zogen sie Rodelschlitten durch den Park zu den kleinen Hügeln. Sie liefen Schlittschuh auf dem
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