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Das Haus der Bronskis

Das Haus der Bronskis

Titel: Das Haus der Bronskis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Marsden
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Gedanken an ein Studium auf. Professor Rydel war zuversichtlich, daß sie im nächsten Jahr anfangen könnte.
     
    Am Ende der Unterrichtsperiode bestieg Helena den Rot-Kreuz-Zug nach Wilna, um Weihnachten dort zu verbringen. Ihre Mutter, die die polnische Verwaltung als beruhigend empfand, war im Oktober dorthin zurückgekehrt, zusammen mit ihrem Bruder, ihrer Schwester und Panna Konstancja. Ihr Haus in der Mała Pohulanka war immer noch nicht freigegeben. Sie hatten sich wieder bei Madame Jelenska eingemietet, der Päpstin von Wilna, und Helena bekam ein Zimmer mit Blick auf einen verwilderten Garten. Eine Linde schabte mit ihren Zweigen am Winterfenster. Helena stellte einen Schreibtisch davor und machte zwei Bücherstapel, der eine englische Geschichte, der andere französische.
    An Weihnachten sollte ein Ball stattfinden, ein Wohltätigkeitsball. Helenas Tante Marynia war Leiterin des Roten Kreuzes und beschäftigte sie alle in der zweiten Dezemberwoche damit, rote und weiße Papierketten zu basteln. Sie hatte den Ball einfach »Ach!« genannt und Helena gebeten, Wahrsagerin zu spielen.
    Dazu legte diese die Krakauer Tracht an   – schwarze Samtweste und weiße Bluse, roter geblümter Rock und hohe schwarze Schnürstiefel. Mit Lidschatten und kirschrotem Lippenstift erkannte sie sich selbst kaum wieder. Sie übte einen ukrainischen Akzent ein und lernte eine Reihe typischer Zigeunerausdrücke.
    Am 18.   Dezember war die Ballnacht. Zum erstenmal in diesem Winter fiel dichter Schnee. Er trieb geräuschlos gegen die Winterfenster. Die Straßen waren weich und still. Es gab weder Schlitten noch Kutschen; der Krieg hatte sich alle Pferde geholt. In der Säulenvorhalle von Tante Marynias Haus breitete sich unter den aufgereihten Filzstiefeln eine große Pfütze aus.
    Die roten und weißen Papierketten waren über dieDecke des Ballsaals gespannt, sie bildeten ein Kreuz. Zu Anfang war es sehr kalt, man sah den Atem der Leute, wenn sie sich unterhielten. An einer Seite standen Krankenschwestern hinter den Stühlen kriegsversehrter Soldaten. Tante Marynia, mit einem Rot-Kreuz-Latz über dem Ballkleid, stieg auf eine Bank und klatschte in die Hände, um Ruhe zu erbitten.
    »Ach!« sagte sie, und murmelndes Gelächter stieg im Saal auf. »Sie mögen sich fragen, warum dieser Abend ›Ach!‹ heißt. Vielleicht meinen Sie, mir sei kein anderer Name eingefallen. Oder er solle uns nach all diesen Jahren der Unsicherheit daran gemahnen, daß wir unsere Empfänglichkeit für Überraschungen eingebüßt haben. Ja, durchaus, dies sind Gründe. Aber eigentlich war es nur so, daß alle Leute, denen gegenüber ich den Ball erwähnte, ganz sprachlos waren. Sie sahen mich an, als wäre ich verrückt, und sagten: ›Ach!‹
    Also, mit Gottes Segen, amüsieren Sie sich! Soda wird im Vestibül gereicht, und um zehn Uhr gibt es eine Lotterie   – der erste Preis ist ein Schachtelmännchen aus Wien!«
    Wieder erhob sich Gemurmel, und ein Quartett begann zu spielen. An Helenas Tisch bildete sich eine Schlange. Einer der ersten war Touren-Józef.
    »Nun, Zigeunermädchen, sag mir wahr!«
    Sie legte ihm die Karten und sah sie lange an. »Sie haben ein glückliches Leben geführt. Sie haben viele Freuden erlebt und viele hervorragende Menschen gekannt.«
    »Was du sagst, ist die reine Wahrheit, Zigeunerin!«
    »Aber hier sehe ich, daß Ihr Herz des Wanderns müde ist . . .«
    Er lachte. »Du besitzt die Weisheit Salomos!«
    »Und diese Karte, Pik Neun   – wissen Sie, was die zu bedeuten hat?«
    Touren-Józef hob die Hände in gespielter Verwirrung.
    »Sie stehen vor einer großen Entscheidung   – Sie können gewinnen, Sie können verlieren.«
    Józef lachte, drückte ihr die Hand und verschwand im Gedränge.
    Wenig später trat noch eine vertraute Gestalt an Helenas Tisch. Es war Adam Broński.
    Vier Jahre waren vergangen, seit Helena Adam zuletzt gesehen hatte, seit jenem ersten Morgen ihrer Flucht nach Rußland. Er war jetzt dreißig. Seine Schwestern hatten sie über ihn auf dem laufenden gehalten, über seinen tapferen Einsatz im Widerstand während des Kriegs, über einen Reitunfall und seine unglückliche Liebe zu einem gewissen Fräulein Gigant. Diese Frau, rothaarig und »eine berühmte Schönheit«, war die Tochter der Besitzer des einzigen Minsker Kinos gewesen. Adam hatte sich im Herbst 1917 in sie verliebt. Es war von Heirat die Rede gewesen, aber sie hatte in jenem Winter Tuberkulose bekommen. Adam saß wochenlang Tag

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