Das Haus der Bronskis
See. Bei den Mahlzeiten standen die Leute auf und berichteten tränenüberströmt von den Jahren der Flucht, von erschütternden Odysseen und zufälligen Begegnungen, vom schwindeln machenden Schock der Heimkehr.
An einem Abend erschien Touren-Józef und schwenkte Helena im Ballsaal in einer wilden Ecossaise herum. Er bekannte seine unverminderte Liebe und schenkte ihr ein dünnbeiniges Damkitz.
Das Kitz entzückte Helena – eine Zeitlang sogar mehr als Józef selbst. Sie nannte es Pierre – sie las gerade
Krieg
und Frieden
. Als sich bald herausstellte, daß Pierre ein Mädchen war, wurde er zu Natascha. Helena hielt Natascha in einem unbenutzten Stall am Waldrand und watete jeden Morgen durch den Schnee, um sie zu füttern.
Die erste Bedrohung dieser neugefundenen Harmonie erfolgte am sechsten Tag nach Epiphanias. Helenas Mutter gingen die Zigaretten aus. Wie alles, was man nicht selbst anbauen konnte, war Tabak nirgends zu bekommen. Helenas Mutter hatte von einer Großpackung italienischer Zigaretten gezehrt, die Onkel Augustus von einem durchreisenden Monsignore erworben hatte. Der ganze Haushalt sah angstvoll zu, wie sie die letzten rauchte. Onkel Augustus war es, der die Lage rettete. Er hatte ein geheimnisvolles, stark aromatisches Kraut entdeckt und rollte ihr daraus Zigaretten.
»Augustus«, sagte sie, »ich weiß nicht, was es ist, aber der Geschmack ist wundervoll. Du mußt mir dein Geheimnis verraten!«
»Bischofseid«, sagte er und tippte sich an einen Nasenflügel.
Nach einer Woche allerdings fand sie es heraus. Er hatte Heu aus Nataschas Streu genommen. Danach schnitt sie Augustus jedesmal, wenn er etwas sagen wollte, das Wort ab: »Hör bloß auf, Augustus! Bedenke, daß der Heilige Geist nur in deiner Diözese durch dich spricht.«
Doch es gab größere Bedrohungen, die Helena nach ihren eigenen Worten ziemlich gleichgültig waren. Sie war viel zu sehr mit ihrem Kitz beschäftigt. Anfang Februar, auf dem Fest zu ihrem Namenstag, trat Helenas Mutter plötzlich in den Salon, stellte sich neben das Klavier und bat um Ruhe.
»Die Bolschewisten«, verkündete sie, »sind nur noch zwei Tagesmärsche entfernt.«
Jeder, erinnert sich Helena, setzte seine ernsteste Miene auf. Tante Anna reckte das Kinn vor und machte den Rücken steif. Onkel Augustus stimmte eine kurze Folge von Gebeten an. Die Damen gaben sich Mühe, einen tapferen Eindruck zu machen; die Herren gaben sich noch mehr Mühe und gelobten die größten Opfer für Weib und Familie, von denen sie gewöhnlich keine Notiz nahmen.
Der alte Pan Romauld mit seiner Piepsstimme gab sich besonders ritterlich. »Ich werde bis zum letzten Blutstropfen kämpfen, um mein Land zu verteidigen! Ich werde nicht zulassen, daß dieser gottlose Mob meinen Leuten Gewalt antut!«
Helena und ihre Schwester knufften einander und kicherten.
Onkel Augustus sah es und murmelte: »Jugend fürchtet nichts, weil sie nichts begreift!«
Eine Zeitlang jedoch blieb alles ruhig. Mehrere Wochen später bekam Helena Fieber. Die Grippeepidemie jenes Winters erreichte sie eher als die Bolschewisten. Ihre Mutter gab ihrem »verfluchten Kitz« die Schuld, und ließ, als Helena das Bett hütete, Natascha frei.
Onkel Augustus arbeitete mit Stefan einen Plan aus. Sollten die Russen kommen, würden sie den Weg hinter dem Haus zum Dorf nehmen und sich dort als Bauern verstecken.
Doch als die Bolschewisten dann kamen, kamen sie plötzlich. Zur Flucht blieb keine Zeit. Eine kleine Einheit der Roten Armee ritt in der Abenddämmerung aus der Allee auf das Haus zu. Helena war nicht transportfähig, sie war zu krank.
Onkel Augustus wich nicht von ihrer Seite. Einen Stock tiefer hielten Stefan und Ewa die Soldaten in Schach. Diese nahmen das Speisezimmer in Beschlag, aßen fast alle Vorräteim Hause auf und tranken, weil sie ihn für einen teuren polnischen Likör hielten, den Schuhkleber von Helenas Mutter aus.
Mitten in der Nacht flohen die O’Breifnes aus Platków. Sie spannten einen Ackerkarren an und fuhren nach Westen. Helena erinnert sich, an die Seitenwand des Karrens gelehnt dagesessen zu haben, sie erinnert sich an den Regen und die kahlen Felder. Sie erinnert sich an das Geräusch der Räder im Schlamm und an die Gestalt von Onkel Bischof, schweigend und mit steinernem Gesicht im fahlen Licht der Morgendämmerung.
Im Lauf des Vormittags erreichten sie schließlich die deutschen Stellungen. Zwei Tage später saßen sie in einem Zug Richtung Warschau.
16.
D
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