- Das Haus der kalten Herzen
absuchten, saß Marietta am Ufer des Teiches. Sie hatte eine Flasche Brandy bei sich, und während sie weinte, nippte sie an dem scharfen Getränk. Mit heiserem Gruß flog eine Krähe über sie hinweg. Marietta dachte nach, weinte und dachte weiter nach.
Mercy setzte sich auf die Bank ihr gegenüber, es tat ihr im Herzen weh, die Schmerzen der Frau und das unvermeidliche Ende mit anzusehen. Schließlich warf Marietta die leere Flasche in den Teich, wo sie ein Loch in das Eis schlug und im Wasser versank. In ihren weiten Röcken sammelte Marietta Steine. Theklas Schlüssel, die sie immer noch bei sich trug, ließ sie ins Wasser fallen.
Das Eis knackte und brach, als Marietta auf den Teich hinaus ging und Richtung Mitte watete. Vielleicht spürte sie die Kälte nicht, weil der Brandy sie wärmte. Das Kleid schien schwarz zu werden. Algen wickelten sich um ihre Arme. Sie blieb einen Moment stehen. Das Wasser reichte ihr bis an die Brust. Dann sah sie ein letztes Mal voller Schmerzen die Sonne aufgehen und ließ sich nach vorn ins klare, unbarmherzige Wasser fallen. Der Teich verschlang sie.
Neun
Mercy stand auf und ging langsam zum Haus zurück. Graue Wolken türmten sich auf und erstickten das erste Sonnenlicht.
Claudius lief nach unten zu der Gesellschaft und schrie, Marietta werde vermisst. Der Haushalt geriet in Aufruhr. Eilig fuhren die Gäste ab. Verzweifelt versuchte Claudius, Marietta zu finden, den Dienern wurde aufgetragen, das Haus abzusuchen. Claudius’ Gesicht war kreideweiß, seine Augen glänzten fiebrig. Thekla versuchte, ihn zu trösten, doch Claudius wollte sich nicht beruhigen. Bald hatten alle das Haus verlassen, bis auf Mariettas Vater, Frederick, und im oberen Stockwerk, von allen übersehen, Chloe, die neben der kleinen Mercy im Bett lag und schlief. Frederick und Trajan tranken und stritten miteinander in der Bibliothek.
Überall im Haus stieß man auf die Überreste des Festes. Essensreste, schmutzige Teller, leere Flaschen und abgestellte Gläser. Weiße Rosen verloren ihre Blüten. Die Stechpalmenblätter hatten durch Rauch und Hitze ihren Glanz verloren.
Im Haus konnte niemand Marietta finden. Claudius richtete seine Aufmerksamkeit auf die Gärten und Stallungen. Er rief die Knechte herbei, damit sie das Arboretum, das Bootshaus und die Ufer des Sees absuchten. Die ersten Schneeflocken fielen weich wie Flaum. Bald war die Luft erfüllt vom Schnee. Die Gärten wurden weiß.
Niedergeschlagen wanderte Mercy im Haus herum. Es war nur eine Frage der Zeit. Irgendwie musste sie all das ertragen, das Warten und den Schmerz, um die Vergangenheit zu verstehen und sich selbst eine Zukunft zu verschaffen. Mit ihrem roten Buch zog sie sich ins Kinderzimmer zurück. Sie schrieb über das Fest und Mariettas Hinscheiden. Dann stellte sie sich ans Fenster und sah in den Schnee hinaus, während die furchtbaren Ereignisse um sie herum ihren Lauf nahmen. Sie wollte helfen, die Hand ausstrecken nach Claudius und ihren Eltern. Hier zu sein und zuzuschauen, wie sie litten, fühlte sich nicht richtig an. Aber sie wusste nicht, was sie sonst tun sollte. Die Tragödie entfaltete sich.
Ein schriller Schrei gellte durchs Haus. Mercy klemmte das Buch unter den Arm und folgte dem Geräusch, das seinen Ursprung in der Halle hatte. Die Eingangstüren waren aufgeweht und eine Böe blies Schnee ins Haus. Claudius stand in der Tür, in seinen Armen hing eine dunkle, leblose Gestalt. Eins der Dienstmädchen hatte geschrien, Theklas Zofe, ihr Gesicht war gezeichnet von der langen Nacht ohne Schlaf. Sie stand an der Tür und betrachtete Claudius und seine kalte Last, beide triefend nass. Mariettas Haar hing in langen, durchweichten Strähnen fast bis auf den Boden hinunter, das dunkle Rot von Algen durchzogen. Claudius trat ins Haus. Thekla eilte in die Halle.
»Oh, mein Gott«, sagte sie. »Oh, mein Gott. Bring sie herein, Claudius. Ist es zu spät? Ist sie tot? Macht die Tür zu. Schnell.«
Das Mädchen erwachte aus ihrer Trance, sie zog die Türen zu und sperrte die Wogen aus Schnee und Wind aus.
Mercy würde das Gesicht von Claudius, der mit Marietta in den Armen durch die Halle ging, nie vergessen. Vielleicht war sie noch nicht alt genug, um zu verstehen, wie einsam es sein würde, für Jahrhunderte zu leben, den langen, langen Weg zu gehen, auf dem währenddessen andere Leute erblühten und welkten. Doch hier bekam sie einen Eindruck davon. Sie spürte einen Schatten seines Schmerzes. Kummer und Verlust ätzten
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