Doppelspiel
Kapitel eins
D er sechsundneunzig Jahre alte Mann saß in seinem bequemen Sessel und genoss ein Buch über Josef Stalin. Kein Publikumsverlag würde solch ein wahnhaftes Manuskript auch nur anfassen, denn der Autor feierte den sadistischen Sowjetführer unverhohlen; doch dem alten Mann gefiel das im Selbstverlag veröffentlichte Buch. Er hatte es direkt vom Autor erstanden, kurz bevor dieser in die Psychiatrie eingewiesen worden war.
Keine Sterne waren über dem großen Grundstück des alten Mannes zu sehen, denn vom Meer her zog ein Sturm auf. Der Mann war zwar reich und lebte in großem Luxus, doch seine persönlichen Bedürfnisse waren verhältnismäßig schlicht. Er trug einen jahrzehntealten Pullover; den Kragen hatte er bis zu dem dicken, von Flechten überwucherten Hals zugeknöpft, und seine billige Hose war viel zu weit für die dürren, nutzlosen Beine. Das hypnotische Trommeln der Regentropfen auf dem Dach hatte bereits eingesetzt. Der Mann lehnte sich zurück und genoss es, seine Gedanken auf die Karriere eines Wahnsinnigen zu richten, der Millionen von Menschen ermordet hatte, die das Pech gehabt hatten, unter seiner eisernen Faust gelebt zu haben.
Gelegentlich lachte der alte Mann über eine besonders grausame Stelle und nickte zustimmend, wenn einer von Stalins Jüngern wieder einmal die radikalen Methoden erklärte, mit denen der Georgier die Menschen- und Bürgerrechte außer Kraft gesetzt hatte. Für den alten Mann war Stalin das Paradebeispiel schlechthin dafür, wie man ein Land zu neuer Größe führte und gleichzeitig dafür sorgte, dass der Rest der Welt vor Angst erzitterte. Der alte Mann zog seine dicke Brille ein Stück herunter und schaute auf seine Uhr. Es war fast elf. Um Punkt neun Uhr war automatisch das Sicherheitssystem angesprungen und hatte sämtliche Türen und Fenster verriegelt. Seine Festung war gesichert.
Plötzlich ließ ein Donnerschlag die Lichter flackern, und schließlich erloschen sie ganz. Doch der Sturm hatte nichts mit dem Stromausfall zu tun. Unten, dort wo die gesamte Elektronik untergebracht war, hatte jemand die Batterie des Sicherheitssystems herausgenommen, sodass die gesamte Stromversorgung zusammengebrochen war. Als Folge davon wurde sofort jede Tür und jedes Fenster entsichert. Zehn Sekunden später sprangen die Notfallgeneratoren an und schalteten das Sicherheitssystem wieder ein. Doch in diesen zehn Sekunden hatte sich ein Fenster geöffnet. Eine Hand war vorgeschossen, um die Digitalkamera aufzufangen, die ins Erdgeschoss geworfen worden war, und eine Sekunde, bevor das Sicherheitssystem wieder ansprang, schloss sich das Fenster erneut.
Der alte Mann merkte nichts davon. Er rieb sich den kahlen, wettergegerbten Kopf. Sein Gesicht hatte schon vor langer Zeit der Schwerkraft nachgegeben. Augen, Nase und Mund waren heruntergezogen, sodass er permanent mürrisch dreinzublicken schien. Sein Körper – oder besser gesagt, das, was von ihm übrig geblieben war – war ebenso verfallen. Inzwischen war er selbst für die einfachsten Dinge auf die Hilfe anderer angewiesen.
Aber wenigstens lebte er noch, während seine Waffenbrüder gestorben waren, viele durch Gewalt. Das machte ihn wütend. Die Geschichte bewies, dass das einfache Volk schon immer neidisch auf jene gewesen war, die das Schicksal zu Höherem bestimmt hatte.
Schließlich legte der alte Mann das Buch beiseite. In seinem Alter brauchte er zwar nur noch drei, vier Stunden Schlaf, aber jetzt war es so weit. Er rief nach seiner Pflegerin, indem er den blauen Knopf auf dem kleinen, runden Gerät drückte, das er ständig um den Hals trug. Es hatte drei Knöpfe. Einer rief die Pflegerin, einer den Arzt und einer den Sicherheitsdienst. Der alte Mann hatte Feinde und war schwer krank, doch die Pflegerin diente hauptsächlich seinem Vergnügen.
Die Frau betrat den Raum. Barbara hatte blondes Haar und trug einen engen weißen Minirock sowie ein Tanktop, das dem alten Mann einen guten Blick auf ihre Brust gewährte, als sie sich vorbeugte, um ihm in den Rollstuhl zu helfen. Dass sie sich besonders offenherzig kleidete, war eine der Einstellungsvoraussetzungen gewesen. Alte, reiche, perverse Männer konnten tun und lassen, was sie wollten. Nun drückte der alte Mann sein faltiges Gesicht in ihr Dekolleté, und als Barbara ihn mit ihren starken Armen auf den Stuhl zog, glitt seine Hand unter ihren Rock, und seine Finger tasteten sich die Schenkel bis zu dem festen Hintern hinauf. Er zwickte sie einmal
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