Das Haus der kalten Herzen
kalten Luftzug gespürt«, sagte die Erste mit einem Schaudern. Mercy trat näher. Vielleicht hatte ihr zweites Selbst ihre Gegenwart irgendwie wahrgenommen.
Mercy verließ die Mädchen und wanderte im Haus herum. Die Holzfußböden glänzten. Die Teppiche waren frisch und farbenfroh. Sie ging an einem Dienstmädchen vorbei, das eine Bronzestatue auf einem Sockel und die gekreuzten Schwerter an der Wand abstaubte. Frische Blumen standen in den Vasen und erfüllten die weiche, warme Luft mit ihrem Duft. Bohnerwachs, Blüten, Sommerhitze – sie atmete alles ein.
Die Szene veränderte sich. Jetzt nahte der Abend, das Licht war nicht mehr so grell. Die Haustür stand offen und führte auf eine Treppe hinaus. Mercy wagte einen vorsichtigen Schritt nach draußen.
Der Himmel war ein Hochofen aus Rot und Gold, gerade erst war die Sonne untergegangen. Wie schön es war. Mercy beschirmte ihre Augen und starrte.
Dann folgte sie dem Klang von Stimmen zum Obstgarten. Das Gras war lang und weich. Kleine Äpfel, Birnen und Pflaumen rundeten sich an den Bäumen. Sie ließ die Obstbäume hinter sich, ging am Gewächshaus vorbei, wo hinter Glas Schmetterlingsflügel flatterten, bis zum Rosengarten.
Dort war der Ursprung der Geräusche: Etwa ein Dutzend Kinder spielte im Gras. Unter einem Baldachin war ein mit allerlei Schüsseln und Tellern beladener Tisch aufgestellt.
Schwalben sausten über den First des Hauses und streiften dann den Boden. Mercy beobachtete, wie sie wieder aufstiegen und in weitem Bogen zum Haus zurückflogen. Ihre Rufe schlugen Saiten in ihrer Erinnerung an und brachten ein Gefühl zum Vorschein, das mit dem Sommer verbunden war, mit Sonnenschein, der sich immer tiefer in die Nacht hineinzog, mit der Wärme der Luft, dem Duft von Gras und Blumen. Das Gefühl verwandelte sich in einen seltsamen Schmerz, gleich unter ihrem Rippenbogen.
Eines der Kinder lief auf sie zu. Ein Mädchen von ungefähr neun oder zehn Jahren in einem blauen Kleid. Es hüpfte an Mercy vorbei, rief den anderen etwas zu und rannte weiter. Zwei andere Mädchen folgten ihm. Dem Anschein nach hatte keins der Kinder Mercy gesehen, die sich an die Wand gedrückt hielt. Nun ging sie nach draußen und schloss sich der Gesellschaft auf dem Gras an.
Fünf Mädchen, wie Apfelblüten in ihren weißen Kleidern, saßen auf einer dunkelroten Decke im Schatten der Rosenbüsche. Unter dem weißen Baldachin saß Thekla auf einem Stuhl. Sie trug jetzt grünen Samt, das blonde Haar war zu Locken gedreht und hochgesteckt. Ihr Kleid hatte einen tiefen Ausschnitt und enthüllte viel weiße Haut.
Und welche Köstlichkeiten Thekla für das Picknick aus der Küche bestellt hatte! Kandierte Blumen waren auf einem silbernen Tablett arrangiert, echte Blüten, rosa, blau und weiß in einem spröden Zuckermantel. Kuchen wie Miniaturschlösser, Pasteten in Fischform, transparente Zuckerbonbons, die wie Edelsteine Kronen aus Baiser zierten.
Die Kinder bewunderten das Festmahl und stopften die essbaren Schätze in ihre feuchten kleinen Münder.
Mercy starrte Thekla an. Obwohl sie davon überzeugt war, dass die blonde Frau ihre Mutter war, fehlte doch etwas. Sie empfand nichts für sie. Ein Gefühl für den Sommerabend hatte sich in ihr geregt, aber für Thekla gar nichts, nur schlichte Neugier. Und doch konnte Mercy nicht aufhören, sie anzusehen. Sie sog die Form von Theklas Gesicht förmlich in sich auf, den Schwung ihrer Lippen, die weizenblonden und honigfarbenen Strähnen ihres Haares, die Perlen an ihren Ohren. Sie rückte näher heran und versuchte noch einmal, den Duft ihrer Mutter einzuatmen.
»Mercy«, sagte Thekla mit lauter, klarer Stimme. »Mercy, komm zu mir.«
Mercy erstarrte vor Schreck, bis sie begriff, dass Thekla nicht sie anschaute. An ihrer Stelle drehte sich ein kleines Mädchen auf der Decke um.
»Mutter?«, sagte sie.
Thekla klopfte auf den Stuhl neben sich. »Komm und sprich mit mir«, sagte sie.
Die kleine Mercy seufzte. Gerade war sie in ein Gespräch mit ihrer Freundin vertieft gewesen, dennoch stand sie gehorsam auf und ging zu ihrer Mutter. Die Freundin schaute ihr nach. Sie hatte rotbraunes Haar mit vielen kleinen Locken und ihr Gesicht kam Mercy sehr bekannt vor. Sie war der Geist vom Korridor vor ihrem Zimmer, der Versteck spielte und manchmal schrie. Mercy legte die Hand an den Mund, sie spürte, wie sich hinter ihren Lippen Worte formten.
Die kleine Mercy, die ungefähr zehn Jahre alt sein musste, setzte sich auf den Stuhl
Weitere Kostenlose Bücher