Das Haus der kalten Herzen
»Galatea sagte mir, du wünschtest mich zu sehen.«
Trajan drehte sich um und ging durch den Raum auf sie zu. Sie dachte, er wäre wütend, aber er streckte die Hand aus und tätschelte ihre Schulter.
»Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen«, sagte er. Er lächelte. »Aber das ist kein Wunder, denn du kannst ja Geister sehen.«
In der anderen Hand hielt Trajan eine kleine Ledertasche. Mercy versuchte, sich zu entspannen. Sie löste ihre verkrampften Hände und ließ sie baumeln.
Trajan hob die Tasche hoch, ließ den Verschluss aufschnappen und leerte den Inhalt vorsichtig auf den Tisch. Entsetzt schaute Mercy zu, wie ihre heimlich gehorteten Briefe einer nach dem anderen auf die grüne Tischdecke fielen. Sie sperrte den Mund auf. Dann schaute sie Trajan an. Der allerletzte Brief, zuoberst auf dem Haufen, war anders als die anderen. Das Papier war neu und frisch und die Handschrift darauf war ihre eigene: Es war der Brief, den sie an Claudius geschrieben und im Bootshaus gelassen hatte.
Mercy machte den Mund zu – und wieder auf. Trajan zog ihr einen Stuhl heran und bedeutete ihr mit einer Geste, sich zu setzen.
»Bist du böse auf mich?«, fragte sie mit piepsiger Stimme.
Trajan nahm neben ihr Platz. Er legte die Handflächen auf den Tisch. Nun wirkte er ruhig.
»Nein«, sagte er. »Aber du musst mir alles erzählen, was du weißt. Wir sind alle in großer Gefahr. Die Familie. Ich habe die Dinge nicht mehr unter Kontrolle. Galatea und Aurelia waren wachsam, aber Claudius ist listiger, als ich vermutet hatte.«
»Claudius?«, platzte Mercy heraus. Und dann: »Bist du uns gefolgt, letzte Nacht? Wusstest du deshalb, dass wir die Briefe mitgenommen hatten?«
»Galatea ist euch gefolgt, Mercy. Ich hatte sie gebeten, auf euch zu achten. Sie hat mir treu gedient. Und nun erzähl mir alles, was du über Claudius weißt.«
Mercy biss sich auf die Lippe. »Er hat gesagt, wir könnten frei sein. Und dass ich die Sonne sehen könnte«, sagte sie. Ihre Gefühle überwältigten sie. Unerwartete Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie schluckte und legte die Arme auf den Tisch.
Trajan schaute sie an und seufzte. Er streckte die Hand aus und berührte ihre Wange. Die Zärtlichkeit dieser Geste war so angenehm und gleichzeitig so überraschend, dass Mercy nun erst richtig zu weinen anfing.
»Wir können niemals frei sein von dem, was wir sind«, sagte er leise. »Ich weiß, wie schwer das ist.«
»Was bedeutet das? Wer sind wir? Wer ist Claudius? Warum wachen wir nur nachts auf?« Die Tränen kullerten. Mercy ließ ihr Gesicht auf die Arme fallen und schluchzte. Trajan strich ihr übers Haar.
»Nun«, sagte er. »Wein doch nicht, Mercy. Mit uns wird alles wieder so werden wie vorher, ehe Claudius aufgetaucht ist. Ich werde für eure Sicherheit sorgen.« Er zog ein großes Taschentuch aus seiner Tasche. Schniefend hob sie den Kopf und er tupfte ihr zärtlich die Augen.
Mercys Herz quoll über. Sie stellte sich vor, sich Trajan in die Arme zu werfen. Ob er sie wohl früher auf den Arm genommen und herumgetragen hatte? Hatten sie miteinander gespielt? Er wirkte so sanft und dabei so mächtig. Und gebrochen. Ein Mann in Stücken, dem die Mitte fehlte. In einem Anflug von Mitgefühl erzählte Mercy ihm von dem Treffen in der Kirche und dem weiteren im Bootshaus. Sie erzählte ihm, was Claudius über den Geist im Teich und die Schlüssel zum Zimmer ihrer Mutter gesagt hatte.
»Die Briefe hast du selbstverständlich gelesen«, sagte er.
»Ein paar.«
»Und was schließt du daraus, was hast du erfahren?«
»Etwas ist passiert, es hat mit Claudius zu tun, und jetzt verstecken wir uns im Haus.«
»Wie Dornröschen«, sagte Trajan. »Du hast natürlich Recht. Das Haus ist versiegelt worden, um uns zu beschützen. Um die Familie zu beschützen. Claudius will uns unseren Schutz nehmen. Doch glaub ja nicht, dass ihm unser Wohlergehen am Herzen liegt, Mercy. Er will fliehen und uns vernichten. Er macht uns für seine eigene Lage verantwortlich – und er will Bache, obwohl er derjenige ist, der uns in diese Situation gebracht hat. An deinem Leben hier – unter Verschluss – ist er schuld.«
»Wie sind wir versteckt? Wo ist meine Mutter?«, fragte Mercy.
»Ist das wirklich ein Zauber? Warum müssen wir uns verstecken?«
Aber er wollte nicht antworten. Er schob ihre Fragen beiseite.
»Wir sind anders als andere Leute«, sagte er. »Mehr will ich dir nicht erzählen, Mercy. Es wäre für dich gefährlich, mehr
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