Das Haus der kalten Herzen
Claudius. »Ist das nicht schön? Und ich habe ein Geschenk für dich, Mercy. Es liegt im Korb. Schau nach.«
Die kleine Mercy zog ein Tuch vom Grund des Korbes. Sie holte ein kleines Samtkästchen hervor. Es war rot und mit Gold bestickt.
»Mach es auf«, drängte Chloe. Claudius nickte. Langsam hob die kleine Mercy den Deckel an. Sie fand zwei tränenförmige Perlen darin, die auf goldenen Draht gezogen waren. Sie sagte nichts. Sie starrte sie nur an.
»Gefallen sie dir?«, fragte Marietta sanft. Die kleine Mercy sagte immer noch nichts. Sie hob den Blick zu Claudius und ihre Lippen öffneten sich.
»Ohrringe«, sagte Chloe. »Sind die schön. Echte Perlen. Hast du ein Glück. Darf ich sie anprobieren?«
Die kleine Mercy schüttelte den Kopf. Sie schloss den Deckel und hielt das Kästchen ganz fest.
»Es wird schon ziemlich dunkel«, sagte Marietta. »Wir sollten lieber zum Haus zurückkehren.« Sie begann, das Essen und die Decken zusammenzuräumen.
»Fahr mit den Mädchen zurück«, sagte Claudius. »Ich möchte noch eine Weile allein hierbleiben. Ich mag die Dunkelheit.«
Marietta missfiel das. »Ich möchte bei dir sein«, sagte sie.
»Bitte.«, sagte er. »Ich bleibe nicht lange. Und ich habe eine Laterne für das Boot.«
Einen Augenblick zögerte Marietta, dann war sie einverstanden. Claudius trug den Korb zum Boot zurück, wo der Diener geduldig wartete. Marietta, Chloe und die kleine Mercy kletterten an Bord und das Boot entfernte sich von der Insel. Sie winkten Claudius zu, als sie davongerudert wurden.
Nachdem das Boot die halbe Strecke zum Ufer bewältigt hatte, ging Claudius zum Tempel zurück.
Er setzte sich auf die oberste der fünf Stufen. Mercy hockte sich neben ihn. Das letzte farbige Glitzern war von der Fläche des Sees verschwunden, der immer schwärzer wurde. Vor ihnen ragte Century auf der Kuppe des Hügels auf. Am Ufer gingen die Kinder mit Thekla dicht am Wasser entlang zum Haus. Der Wald am Seeufer war nun voller Dunkelheit. Eine leichte Brise wehte vom Wasser heran in ihre Gesichter. Zwischen den Bäumen beendete der Chor der Rotkehlchen seinen dünnen, traurigen Gesang und nur die lang gezogenen, wehmütigen Töne der Nachtigall blieben. Sie würde den Rest der Nacht weitersingen. Geißblatt und Heckenrosen hatten eine der weißen Säulen überwuchert.
»Das war der vollkommenste Tag meines Lebens«, sagte Claudius. »Nichts davor und nichts danach war damit zu vergleichen.« Er wandte sich Mercy zu. »Mein Herz war voller Glück«, sagte er. »Alles war perfekt – nie war ich mehr ich selbst. Ich wollte, dass dieser Tag nie zu Ende geht. Und jetzt ist das so.«
Fünf
Mercy schlang die Arme um die Knie und schaute auf den See hinaus.
»Welches Jahr haben wir?«, sagte sie.
»Eine gute Frage«, antwortete Claudius. »Hier? Oder da, wo du herkommst?«
»Sowohl als auch.«
»Dies ist der Sommer 1789. Das Datum weißt du natürlich.«
»Mein Geburtstag.« Mit gefurchter Stirn strengte sie ihr Gedächtnis an. »Der erste Juni? Jetzt sag, welches Jahr an dem anderen Ort ist, von dem ich gekommen bin.«
Claudius schaute sie an. »1890«, sagte er. »Gerade mal hundert Jahre sind vergangen.«
Mercy drückte die Fingernägel in ihre Handflächen. Sie glaubte ihm nicht. Aber die Briefe fielen ihr wieder ein, die seltsame Datierung von vor langer, langer Zeit.
»Wie kann das wahr sein?«, wollte sie wissen. »Das bedeutet, dass ich über hundert Jahre alt bin, und du auch. So was ist doch unmöglich.«
Claudius seufzte. »Trajan hat dir nie etwas über die Familie erzählt«, sagte er.
»Die Familie«, sagte sie. »Was ist mit ihr? Wir kommen aus Italien, das weiß ich. Aus der alten Heimat.«
»Die Vergas sind nicht wie andere Leute«, sagte er. »Wir leben Hunderte von Jahren, Mercy. Soweit ich das beurteilen kann, leben wir ewig. Wir werden erwachsen und so bleiben wir dann. Wenn ich einen Unfall hätte, würde ich natürlich sterben oder wenn ich ermordet werden oder mich von einem Dach stürzen würde. Sonst nicht – kein Tod. Für uns ist der Tod nichts Natürliches.«
Mercy schwirrte der Kopf. Konnte das wahr sein?
»Aber Trajan sieht jetzt alt aus«, sagte sie. »Und warum bin ich nach hundert Jahren immer noch ein Kind? Was du mir erzählst, ergibt doch überhaupt keinen Sinn.«
»Wenn wir erwachsen sind, spiegelt sich der Zustand unseres Herzens in unserem Aussehen«, erklärte Claudius. »Dein Vater ist alt, weil er seinen Lebenswillen verloren hat.
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