Das Haus der Madame Rose
Zeitung hast Du immer gern von vorn bis hinten gelesen, sogar die Anzeigen, jeden Morgen. Jedes Mal, wenn Du den Namen des Präfekten gedruckt sahst, stießt Du einen Schwall Flüche aus. Einige waren sehr grob.
Der Armand, den ich vermisse, ist nicht die alte, verwirrte Person, die Du mit achtundfünfzig warst, als der Tod Dich ereilte. Der Armand, nach dem ich mich sehne, ist der junge Mann in Kniehosen mit seinem warmen Lächeln. Wir waren dreißig Jahre verheiratet, Liebster. Ich möchte an unsere erste Zeit der Leidenschaft zurückdenken, an Deine Hände auf meinem Körper, die heimliche Lust, die Du mir bereitetest. Niemand wird diese Zeilen lesen, also kann ich Dir sagen, wie sehr Du mich verwöhntest und was für ein glutvoller Liebhaber Du warst. Oben in unserem Schlafzimmer liebten wir uns, wie Frau und Mann es tun sollten. Doch als die Krankheit an Dir zu zehren begann, ließen Deine Liebkosungen langsam nach und blieben mit der Zeit ganz aus. Ich fürchtete, ich könnte nicht länger Dein Begehren entfachen. Gab es eine andere Frau? Doch diese Angst klang ab, und eine neue Sorge zog am Horizont herauf, als ich begriff, dass Du überhaupt kein Verlangen mehr hattest, weder nach einer anderen Frau noch nach mir. Du warst krank, und die Lust war erloschen, für immer.
Und dann war da dieser schreckliche Tag gegen Ende, als ich mit Mariette vom Markt zurückkam und wir Germaine tränenüberströmt auf der Straße vor dem Haus antrafen. Du warst verschwunden. Sie hatte den Salon leer vorgefunden, Dein Hut und Dein Gehstock waren weg. Wie konnte das passieren? Du gingst nur ungern aus dem Haus. Du gingst nie aus. Wir suchten das ganze Viertel ab, von Madame Paccards Hotel bis zu Madame Godfins Kräuterhandlung gingen wir in jeden Laden, aber niemand, weder Monsieur Horace, der immer viel Zeit vor seiner Ladentür verbrachte, noch jemand von der Druckerei hatte Dich an jenem Morgen gesehen. Es gab keine Spur von Dir. Ich eilte aufs Kommissariat an der Place Saint-Thomas-d’Aquin und schilderte die Lage: Mein Mann, ein älterer, verwirrter Herr, wurde vermisst, und zwar seit drei Stunden. Ich verabscheute es, Deine Krankheit beschreiben zu müssen, ihnen sagen zu müssen, dass Du den Verstand verloren hattest, dass Du manchmal Angst einflößend warst, wenn Dich Deine Verstörung überkam. Du würdest oft Deinen Namen vergessen, sagte ich den Männern – wie solltest Du also nach Hause finden, wenn Du auch noch Deine Adresse vergisst? Der Kommissar war ein gutherziger Mann. Er bat mich um eine genaue Beschreibung von Dir. Er sandte eine Wache aus, um Dich zu suchen, und bat mich, mir keine Sorgen zu machen. Doch die machte ich mir.
Am Nachmittag zog ein schwerer Sturm auf. Der Regen prasselte mit kolossaler Wucht aufs Dach, der Donner grollte so laut, dass die Fundamente bebten. Voller Kummer dachte ich an Dich. Was tatst Du gerade? Hattest Du irgendwo Unterschlupf gefunden? Hatte Dich jemand bei sich aufgenommen? Oder hatte ein ruchloser Fremder Deine Verwirrung schamlos ausgenutzt und eine Freveltat begangen?
Während es schüttete, stand ich am Fenster, Germaine und Mariette weinten hinter mir. Ich konnte es nicht länger ertragen. Ich ging aus dem Haus. Mein Schirm war nutzlos, der Regen hatte mich bald bis auf die Haut durchnässt. Ich schaffte es in den durchweichten Jardin du Luxembourg, der vor mir lag wie ein gelbes Schlammmeer. Ich überlegte, wohin Du gegangen sein könntest. Zum Grab Deiner Mutter und Deines Sohnes? In eine Kirche? Ein Café? Es wurde schon dunkel, und noch immer gab es kein Lebenszeichen von Dir. Völlig erschöpft taumelte ich nach Hause. Germaine hatte mir ein heißes Bad bereitet. Die Minuten vergingen langsam wie die Ewigkeit. Du warst nun schon zwölf Stunden weg. Der Kommissar kam vorbei, seine Miene war ernst. Er hatte seine Männer in die umliegenden Hospitäler geschickt, um nachzufragen, ob Du eingeliefert worden warst. Vergeblich. Er ermahnte mich, den Mut nicht zu verlieren, und ging wieder. Wir saßen schweigend am Tisch mit Blick auf die Tür. Der Abend verging. Wir konnten weder essen noch trinken. Mariettes Nerven spielten nicht mehr mit, ich schickte sie auf ihr Zimmer, weil sie kaum mehr stehen konnte.
Mitten in der Nacht klopfte es an die Haustür. Germaine eilte hinunter, um zu öffnen. Da stand ein Fremder, ein eleganter junger Herr im Jagdkostüm. Und Du standest neben ihm, abgespannt und lächelnd, und hieltst Dich an Père Levasques Arm fest. Der Fremde
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