Das Haus der Madame Rose
erzählte, er sei am späten Nachmittag mit Freunden im Wald von Fontainebleau auf der Jagd gewesen und dort diesem Mann begegnet, der aussah, als hätte er sich verirrt. Erst habe ihm der Mann nicht sagen können, wer er war, doch später habe er immer wieder die Kirche Saint-Germain-des-Prés erwähnt, also hatte er ihn in seiner Kutsche hergefahren. Père Levasque fügte hinzu, die Männer seien in die Kirche gekommen und er habe Armand Bazelet natürlich sofort erkannt. Du sahst verwirrt und sanft aus. Ich war wie vom Schlag getroffen – der Wald war meilenweit entfernt. Ich war als Kind einmal dort gewesen, die Fahrt dorthin hatte den ganzen Vormittag gedauert. Wie um alles in der Welt hatte es Dich dorthin verschlagen? Wer hatte Dich dorthin gebracht und wie?
Ich dankte dem jungen Mann und Père Levasque ganz herzlich und führte Dich vorsichtig ins Haus. Mir war klar, dass ich Dir keine Fragen stellen konnte und Du keine Antworten für mich hattest. Wir setzten Dich in den Sessel und untersuchten Dich gründlich. Deine Kleider waren schmutzig, voller Schlamm und Dreck. Grasbüschel und Dornen steckten in Deinen Schuhen. An Deinem Gehrock fielen mir dunkle Flecken auf. Besorgnis erregender jedoch waren ein tiefer Schnitt in Deinem Gesicht und rote Kratzer an Deinen Händen. Germaine schlug vor, trotz der späten Stunde den jungen Doktor Nonant um Hilfe zu bitten. Ich war einverstanden. Sie warf ihren Umhang über und eilte durch die Nacht, um den Arzt zu holen. Als er schließlich kam, warst Du eingeschlafen, Du atmetest ruhig wie ein Kind, ich hielt Deine Hand. Ich weinte leise, verzweifelte Tränen der Erleichterung, gemischt mit Angst, ich drückte Deine Hand und rekapitulierte die unbegreiflichen Ereignisse dieses Tages. Wir würden nie erfahren, was vorgefallen war, warum man Dich Meilen von der Stadt entfernt im Wald aufgefunden hatte, wo Du mit blutender Stirn umhergewandert warst. Du würdest es uns nie erzählen.
Der Doktor hatte mich zwar auf Deinen bevorstehenden Tod vorbereitet, dennoch war es ein schwerer Schlag, als er dann tatsächlich eintrat. Ich ging auf die fünfzig zu und hatte das Gefühl, mein Leben läge für immer hinter mir. Ich war allein. Nachts lag ich in unserem Bett wach und lauschte der Stille. Nun konnte ich Deinen Atem nicht mehr hören, das Rascheln der Laken, wenn Du Dich bewegtest. Ohne Dich fühlte sich unser Bett an wie ein kaltes, feuchtes Grab. Mir war, als würde selbst das Haus still nach dir fragen. Dein Sessel war grausam leer. Da waren Deine Stadtpläne, Deine Papiere, Deine Bücher, Deine Feder, Dein Tintenfass, doch Du warst nicht mehr hier. Dein Platz am Esstisch schrie Deine Abwesenheit hinaus. Die rosa Muschel, die Du im Trödelladen in der Rue des Ciseaux gekauft hattest und in der es rauschte wie das Meer, wenn man sie ans Ohr hielt … Was tun wir, wenn unsere Lieben uns für immer verlassen und wir mit den prosaischen Dingen ihres Alltags zurückbleiben? Wie kommen wir damit zurecht? Beim Anblick Deines Kamms und Deiner Haarbürste musste ich weinen. Deine Hüte. Dein Schachbrett. Deine silberne Taschenuhr.
Unsere Tochter war nach Tours gezogen, acht Jahre wohnte sie nun schon dort und hatte zwei Kinder. Meine Mutter war sieben Jahre zuvor gestorben, mein Bruder Émile war aufs Land gezogen. Ich hatte nur noch die Nachbarn, ihre Gesellschaft und Unterstützung waren mir von unschätzbarem Wert. Alle verwöhnten mich. Monsieur Horace brachte mir kleine Fläschchen Erdbeerlikör vorbei. Monsieur Monthier spendierte mir die köstlichsten Pralinen. Madame Paccard lud mich jeden Donnerstag zum Mittagessen ins Hotel ein, Monsieur Helder montags zu einem frühen Abendessen ins Chez Paulette. Madame Barou besuchte mich ein Mal pro Woche. Père Levasque machte jeden Samstagmorgen mit mir einen Spaziergang zum Jardin du Luxembourg. Dennoch konnte nichts das klaffende, schmerzende Loch füllen, das Du mit Deinem Tod in mein Leben gerissen hattest. Du warst ein stiller Mann gewesen, doch Du hattest viel stillen Raum eingenommen, und das fehlte mir nun. Deine Festigkeit und Deine Stärke.
Ich höre Gilberts Klopfcode und gehe ihm aufmachen. Es ist eiskalt heute Morgen, meine Haut ist dunkelrot vor Kälte. Gilbert humpelt herein, klatscht in seine behandschuhten Hände und stampft mit den Füßen auf. Der eisige Luftzug, den er hinter sich herzieht, lässt mich von Kopf bis Fuß erzittern. Er geht gleich zum Kochherd und entfacht eifrig das Kohlefeuer.
Ich sehe ihm
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