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Das Haus der Madame Rose

Das Haus der Madame Rose

Titel: Das Haus der Madame Rose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tatiana de Rosnay
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viele Zivilisten umgekommen waren.
    Ein kleines Mädchen. Ich war zu erschöpft, um enttäuscht zu sein. Man legte es mir an die Brust, und als ich es ansah, dieses schrumpelige Geschöpf mit dem verzerrten Gesicht, da empfand ich unerklärlicherweise weder Liebe noch Stolz. Es stieß mich mit seinen winzigen Fäusten weg und jammerte klagend. Nein, es war keine Liebe auf den ersten Blick zwischen mir und meiner Tochter. Auch achtunddreißig Jahre später hat sich nichts verändert. Ich weiß nicht, wieso das so kam, ich kann es nicht erklären. Es ist mir ein Rätsel. Warum liebt man ein Kind und ein anderes nicht? Warum stößt ein Kind seine Mutter weg? Wessen Fehler ist das? Warum geschieht es so früh, schon bei der Geburt? Warum kann man daran nichts ändern?
    Violette ist eine harte Frau geworden, knochig, mit Kanten und Ecken, sie hat nicht die Spur Deiner Vornehmheit oder meiner Herzlichkeit. Wie kommt es, dass wir Kinder von unserem Fleisch und Blut austragen und dennoch keine Beziehung zu ihnen bekommen, als wären sie Fremde? Sie sieht Dir ähnlich, sie hat Deine Nase, Deine dunklen Haare und Augen. Sie ist nicht hübsch, hätte es aber sein können, wenn sie mehr gelächelt hätte. Sie hat nicht einmal das Mürrische meiner Mutter oder diese kokette Eitelkeit, die manchmal amüsant war. Was findet mein Schwiegersohn, dieser affektierte, spießige Laurent, nur an ihr? Wahrscheinlich die perfekte Hausfrau. Sie ist sicherlich eine gute Köchin. Sie führt diesen Landarzthaushalt mit eiserner Hand. Und ihre Kinder … Clémence und Léon … Ich kenne sie ja kaum … Ich habe die Süßen seit Jahren nicht mehr gesehen …
    Das ist nun mein einziges Bedauern, Liebster. Als Großmutter hätte ich gern mit meinen Nachkommen ein Band geknüpft. Aber nun ist es zu spät. Vielleicht wird man als enttäuschte Tochter eine unzulängliche Mutter. Vielleicht ist die fehlende Liebe zwischen Violette und mir mein Fehler. Vielleicht bin ich schuld. Ich stelle mir vor, wie Du mir mit einem »Ts, ts« über den Arm streichst. Aber weißt Du, Armand, ich habe den Kleinen so viel mehr geliebt. Es ist also sicherlich mein Versäumnis. Nun, im Winter meines Lebens, kann ich zurückblicken und diese Tatsache fast ohne Schmerz feststellen. Aber nicht ohne Reue.
    Ach, mein Lieber, wie sehr Du mir fehlst! Ich betrachte die letzte Fotografie, die ich von Dir habe, die vom Totenbett. Sie hatten Dir Deinen eleganten schwarzen Anzug angezogen, den Du nur zu ganz besonderen Anlässen trugst. Dein Haar, kaum ergraut, ist zurückgekämmt und Dein Schnauzbart gebürstet. Deine Hände sind über Deiner Brust gefaltet. Wie oft habe ich mir dieses Bild angesehen, seit Du von mir gegangen bist? Sicherlich Tausende Mal.

Gerade bekam ich einen ganz fürchterlichen Schreck . Meine Hände zittern so sehr, dass ich kaum schreiben kann. Während ich Dein Gesicht in allen Einzelheiten studierte, polterte es laut an der Haustür. Jemand versuchte einzudringen. Ich sprang auf, mein Herz schlug bis zum Hals, ich warf die Teetasse um. Laut klirrend fiel sie zu Boden. Ich erstarrte, vom Grauen gepackt. Hatten sie etwas gehört? Würden sie merken, dass jemand im Haus war? Ich kauerte mich dicht an die Wand und kroch langsam zur Tür. Draußen waren Stimmen, Schlurfen zu hören. Der Türgriff bewegte sich wieder. Mit angehaltenem Atem drückte ich mein Ohr an die Tür. Männerstimmen erklangen laut und deutlich an diesem kalten Morgen.
    »Dieses hier wird bald abgerissen, die Arbeiten beginnen höchstwahrscheinlich nächste Woche. Die Besitzer sind ausgezogen, es ist leer wie eine alte Muschel.«
    Ein Stoß gegen die Tür ließ das Holzpaneel an meiner Wange beben. Ich wich schnell zurück.
    »Die alte Tür ist noch mächtig robust«, sagte eine andere Männerstimme.
    »Du weißt ja, wie schnell diese Häuser einfallen«, höhnte die erste Stimme. »Es braucht nicht lange, um es abzureißen, ja die ganze Straße kahl zu schlagen.«
    »Stimmt. Diese kleine Straße und die andere dort um die Ecke sind in null Komma nichts weg.«
    Wer konnten diese Männer sein?, fragte ich mich, als sie schließlich abzogen. Durch eine Ritze im Fensterladen lugte ich hinaus. Zwei junge Kerle in Amtskleidung. Wahrscheinlich gehörten sie zum Trupp des Präfekten, zuständig für Erneuerung und Verschönerung. Groll überkam mich. Diese Leute waren herzlos wie Dämonen. Sie hatten kein Herz, keine Gefühle. Machte es ihnen denn gar nichts aus, das Leben der Menschen in

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