Das Haus der Madame Rose
erstickt in der Banalität des Lebens in der Provinz.«
Ich sah, dass der stille Leser auf der anderen Seite des Raums den Kopf hob, nickte und aufmerksam zuhörte.
»Und was geschieht mit dieser schönen, gelangweilten Frau?«, fragte ich mit plötzlich erwachter Neugier.
Monsieur Zamaretti sah mich an, als hätte er mit mir einen dicken Fisch an Land gezogen.
»Na, diese Frau ist eine begierige Leserin von Liebesromanen. Sie findet ihre Ehe eintönig und sehnt sich nach einer Romanze. Also lässt sie sich auf Affären ein, und die Tragödie nimmt unweigerlich ihren Lauf …«
»Ist das denn ein Roman für eine gesetzte ältere Dame wie mich?«, fiel ich ihm ins Wort.
In gespieltem Entsetzen riss er den Mund auf. (Du erinnerst Dich, wie gern er übertrieb …)
»Madame Rose! Wie könnte Ihr bescheidener und ehrfürchtiger Diener es je wagen, Ihnen ein Buch zu empfehlen, das nicht Ihrem gesellschaftlichen Status und Ihrer geistigen Kapazität entspräche? Ich habe dieses Buch nur ausgesucht, weil ich ganz zufällig weiß, dass Damen, die sonst nur selten lesen, es leidenschaftlich verschlingen.«
»Höchstwahrscheinlich hat der skandalträchtige Prozess sie dazu angeregt«, bemerkte der einsame Leser in seiner Ecke. Monsieur Zamaretti fuhr zusammen, als hätte er dessen Anwesenheit ganz vergessen. »Danach wollten die Leute dieses Buch umso mehr lesen.«
»Da haben Sie wirklich recht, Monsieur. Der Skandal trieb die Verkaufszahlen rasant in die Höhe, das muss man zugeben.«
»Was für ein Skandal? Was für ein Prozess?«, fragte ich und kam mir schon wieder dumm vor.
»Das war vor ein paar Jahren, Madame Rose, zu der Zeit, als Ihr Mann im Sterben lag. Der Autor wurde des Verstoßes gegen die guten Sitten und die Moral angeklagt. Die vollständige Veröffentlichung des Romans wurde zunächst untersagt, und er wurde nur zensiert abgedruckt. Das zog einen Prozess nach sich, der in der Presse ausführlich kommentiert wurde. Daraufhin wollten alle das Buch lesen, das so einen Skandal hervorgerufen hatte. Ich habe täglich Dutzende Exemplare verkauft.«
Ich betrachtete das Buch und blätterte das Vorsatzblatt um.
»Und was halten Sie selbst davon, Monsieur Zamaretti?«, fragte ich.
»Ich halte Gustave Flaubert für einen unserer allergrößten Schriftsteller und Madame Bovary für ein Meisterwerk.«
»Also bitte!«, ließ sich der Leser in der Ecke verächtlich vernehmen. »Das geht nun doch ein wenig zu weit.«
Monsieur Zamaretti ging nicht auf ihn ein.
»Lesen Sie einfach die ersten Seiten, Madame Rose. Wenn es Ihnen nicht gefällt, legen Sie das Buch einfach wieder weg.«
Wieder nickte ich, holte tief Luft und schlug die erste Seite auf. Ich tat das natürlich lediglich Monsieur Zamaretti zum Gefallen. Er war seit Deinem Tod so nett zu mir gewesen, er schenkte mir immer ein herzliches Lächeln und winkte mir zu, wenn ich an seinem Laden vorbeiging. Ich machte es mir in dem Ohrensessel bequem und nahm mir vor, zwanzig Minuten zu lesen. Dann würde ich mich bedanken und nach oben gehen.
Als Nächstes erinnere ich mich, dass Germaine Hände ringend vor mir stand. Ich wusste gar nicht mehr, wo ich war und was ich hier tat. Es war, als würde ich aus einer anderen Welt zurückkommen. Germaine starrte mich sprachlos an. Dann merkte ich plötzlich, dass ich noch immer unten in der Buchhandlung saß. Draußen war es schon ganz dunkel, und mein Magen knurrte.
»Wie spät ist es?«, fragte ich kleinlaut.
»Nun, Madame, es geht auf sieben Uhr zu. Mariette und ich haben uns die größten Sorgen gemacht. Das Abendessen ist fertig, das Huhn ist jedoch mittlerweile angebrannt. Im Blumenladen konnten wir Sie nicht finden, und Mademoiselle Walcker sagte, Sie seien längst gegangen.«
Aufmerksam besah sie sich das Buch in meinen Händen. Da wurde ich mir gewahr, dass ich über drei Stunden gelesen hatte. Monsieur Zamaretti half mir auf – mit einem triumphierenden Lächeln.
»Vielleicht wollen Sie ja morgen wiederkommen und Ihre Lektüre fortsetzen …«, säuselte er.
»Ja«, sagte ich ganz benommen. Dann ließ ich mich von einer gestrengen Germaine, die ständig nur mit der Zunge schnalzte und den Kopf schüttelte, die Treppe hinaufführen.
»Geht es Madame gut?«, fragte Mariette, die, umhüllt von dem Appetit anregenden Geruch gebratenen Huhns, hinter der Tür gewartet hatte.
»Madame geht es bestens«, blaffte Germaine sie an. »Madame hat gelesen und darüber alles andere vergessen.«
Das hätte Dich
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