Das Haus der tausend Blueten
Blick auf das Kielwasser der Jutlandia , als der Schlepper den Dampfer aus dem Hafen zog.
Genau in diesem Moment sah sie Onkel Hängebacke, der sich zwischen den Kulis auf dem Kai hindurchkämpfte. Er schrie etwas und fuchtelte wild mit seinem Stock in der Luft herum. Die Kulis unterbrachen ihre Arbeit und starrten ihn verblüfft an. Einige von ihnen stellten sogar ihre Jutesäcke mit Gewürzen und Paprika auf den Boden und nahmen ihre Schweißtücher ab. Das Gesicht vor Anstrengung verzerrt, den Bauch unter seinem Hemd gewölbt wie ein prall gefülltes Kissen, brüllte er dem aus dem Hafen auslaufenden Schiff hinterher, es solle auf der Stelle umkehren.
Hatte er sie also doch noch gefunden. In ihrem Inneren ballte sich etwas zur Faust. Sie sah, wie er seinen Gehstock so wütend gegen den hölzernen Anlegesteg schmetterte, dass er zersplitterte. Sein Gesicht wurde immer kleiner, als das Schiff sich entfernte. Die Faust in Lu Sees Innerem öffnete sich langsam wieder, und dennoch blieb ihr die Gewissheit, dass sich in ihrer Mitte jetzt ein Loch gebildet hatte.
Alles, die Ladengeschäfte, die zweistöckigen Kolonialgebäude der Briten, die Inderinnen in ihren gelben Saris, die Moslems mit ihren kegelförmigen songkok -Hüten, die chi nesischen Kinder, die mit Papierlaternen spielten, Onkel Hängebacke – all das schrumpfte zu winzigen Punkten zusammen und verschmolz schließlich mit dem Meer.
Hier bin ich nun, dachte sie, ich habe die Anker gelichtet und bin frei. Keine Reue. Nur die Lust auf Abenteuer.
Noch nie zuvor hatte sie gegen irgendetwas aufbegehrt. Dies war der Wendepunkt in ihrem Leben. Jetzt gab es kein Zurück mehr.
Nachdem ihr die Schuldgefühle tagelang wie ein Stein im Magen gelegen hatten, spürte sie nun zum ersten Mal das Gefühl der Freiheit; ein Selbstvertrauen, das vorher nicht da gewesen war. Ihr wurde leicht ums Herz, ihre Augen begannen zu strahlen, und endlich empfand sie auch eine gewisse Genugtuung darüber, dass sie ihrer Familie getrotzt hatte.
Sie wandte sich wieder ihrem Skizzenbuch zu und riss eine Seite aus der Mitte heraus. Es war ein Blatt mit einer Bleistiftzeichnung von Tamarind Hill , die sie erst vor ein paar Wochen angefertigt hatte. Mit dem Rücken zum Wind nahm sie eine Streichholzschachtel aus ihrer Rocktasche und zündete die Skizze an.
Sie fühlte sich frei wie ein Vogel hoch oben am Himmel.
Sum Sum zog, so wie es malaiische Sitte war, ihre schwarzen Stoffschuhe aus, bevor sie die Kabine der ersten Klasse betrat. Dann stand sie barfuß auf dem dunklen Teppich, von dem sich ihre glänzenden Zehenringe deutlich abhoben. Ihre Brüste waren in Lu Sees enges blaues Strandkleid gequetscht. Sie spürte, wie die kühle Seeluft leicht um ihre Beine strich, während sie ihren Blick langsam durch die luxuriöse Suite schweifen ließ. Sie bestaunte die hauchdünnen meergrünen Vorhänge, die Tische mit ihren marmornen Platten und die Vasen aus blassrosafarbener Koralle.
»Willkommen an Bord der MS Jutlandia . Wir werden die Nicobar Islands, Colombo, Bombay, Adan, Tobruk, Lissabon und Felixstowe anlaufen, bevor wir unser endgültiges Ziel, Kopenhagen, erreichen. Wenn Sie mir bitte folgen würden, Miss Apricot«, sagte der chinesische Kabinensteward. »Ihr Schlafzimmer liegt direkt neben dem Ihrer Cousine. Doppelbetten, wie gewünscht.«
»Cousine?«, rief Sum Sum und starrte den Kabinensteward verblüfft an. »Ich bin nicht ihre …«
»Ja, vielen Dank!«, unterbrach sie Lu See und drückte dem jungen Mann einen Straits-Dollar in die Hand. »Stellen Sie den Koffer einfach vor dem Fenster ab. Wir kümmern uns später selbst darum.«
»Ich wünsche Ihnen eine angenehme Reise«, sagte der Steward und schloss dann mit einem leisen Klicken die Tür hinter sich.
Als sie allein waren, sah Lu See Sum Sum an. Die klimperte belustigt mit den Wimpern – kleine, amüsierte Flügelschläge einer Motte.
»Hast du tatsächlich erwartet, dass ich dich im Zwischendeck unterbringe, wo du die Toiletten und die Atemluft mit all diesen pickelärschigen Männern teilen musst? So siehst du aus!«
Sum Sum vollführte laut lachend einen kleinen Freudentanz in der Kabine. Dann streckte sie spontan die Hände aus, um Lu Sees Gesicht zu berühren, dessen hohe Wangenknochen so kantig waren, dass es manchmal den Anschein hatte, als wollten sie durch die Haut brechen.
»Sieben Jahre! Sieben Jahre wir kennen uns jetzt schon, und du hast mir noch nie so überrascht!«
Lu See lächelte. »Sind es
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