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Das Haus der tausend Blueten

Das Haus der tausend Blueten

Titel: Das Haus der tausend Blueten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Lees
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Street entlangging, hielten sie Abstand zu ihr, grüßten sie nur selten und schenkten ihr nie auch nur ein Lächeln. Tatsächlich begegneten sie ihr sogar mit Argwohn.
    Kommt es daher, weil ich im Dschungel gekämpft habe?
    Sie war sich nicht sicher. Das Verhalten der Menschen erinnerte Mabel an die Krokodile im Tengi-Fluss, von denen nur die Augen sichtbar waren, wenn sie träge durch das gelbe Wasser schwammen. Sie kam sich vor, als würde man sie die ganze Zeit über beobachten.
    Nach alldem, was in diesem Land geschehen war, schien es einfach nicht mehr möglich zu sein, jemandem einen selamat pagi, einen Guten Morgen, zu wünschen, wenn das Gegenüber den Verdacht hegte, dass man eine kommunistische Vergangenheit besaß. Die Leute mochten die Rebellen heimlich unterstützt haben, aber jetzt, da der Notstand aufgehoben worden war, wollten sie nichts mehr mit ihnen zu tun haben.
    »Du musst etwas essen«, sagte Lu See, während sie den Schweineeintopf umrührte. »Sieh dich doch nur an! Du bestehst ja nur noch aus Haut und Knochen. Wir müssen sehen, dass du wieder Fleisch auf die Rippen bekommst.«
    Wenn ihre Mutter das sagte, kam sich Mabel wie ein Schwein vor, das zum Schlachten gemästet wurde. Aber das war nun einmal die Art und Weise, wie chinesische Mütter ihre Zuneigung zeigten; sie fütterten die, die sie liebten.
    Mabel musste an die Sendung im Radio denken, die sie kurz zuvor gehört hatte. Dr. Chow und Mrs Gangooly hatten in der Stunde der malaysischen Frau die kulturellen Unterschiede der Erziehung diskutiert: »Da es uns Chinesen schwerfällt, unseren Kindern auf die in westlichen Ländern übliche körperliche Weise, also durch Umarmungen und Küsse, Zuneigung zu vermitteln, verwöhnen wir sie stattdessen. Und wir bestrafen sie hart, wenn sie etwas falsch machen!«
    In ebendiesem Moment war Mabel das alte kantonesische Sprichwort in den Sinn gekommen, das da lautete: Da see tung, ma see ngoi – Schlagen ist Fürsorge. Schelten ist Liebe.
    »Iss noch etwas, bitte.« Lu See stieß Mabel mit dem Zeigefinger in die Rippen, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. »Schau doch nur, wie dünn du bist.«
    Aber Mabels Magen wurde mit so viel Essen einfach nicht mehr fertig. Er war geschrumpft, und es brauchte Zeit, damit er sich wieder anpassen konnte.
    »Ich bin daran gewöhnt, nur winzige Portionen zu mir zu nehmen, von Tellern, die aus Blättern bestehen«, erklärte sie Lu See. »Es ist schon eine Weile her, seit …«
    Sie zuckte zusammen. Ein leises peng war zu hören.
    »Warum bist du so schreckhaft?«
    Mabel schwieg. Peng-peng-peng! Das Geräusch ähnelte fernen Schüssen.
    Wie Maschinengewehrfeuer. Es rattert in meinem Kopf.
    Sofort stiegen Erinnerungen in ihr auf: Corporal Johnny Evans, in dessen Bauch es von schwarzen Ameisen wimmelte. Bong mit zerfetztem Brustkorb. Leichen mit grässlich in die Ferne starrenden Augen. Irgendwann musste sie aufhören, sich an diese Gesichter zu erinnern.
    Eines Nachts erwachte Lu See, von Mabels Schreien geweckt. Sie stand in dem von einer Lampe erhellten Flur vor dem Zimmer ihrer Tochter und lauschte ihrem leisen Wimmern, dem panischen Japsen, hörte, wie sie um sich trat und sich im Schlaf hin und her warf, wartete auf das Heulen, das unvermeidlich kommen würde. Das Gefühl der Hilflosigkeit drohte sie zu überwältigen.
    Später saß sie neben Mabel auf dem Bett und trocknete ihrer Tochter mit dem Saum ihres Pyjamaärmels die Tränen, während sich diese nach vorn gebeugt hatte, als hätte sie Magenkrämpfe.
    »Es tut mir leid«, schluchzte Mabel.
    Lu See sagte ihrer Tochter, dass sie sich nicht zu entschuldigen brauche. Sie nahm ihre Hand und streichelte die Haut, die von Tausenden von Mückenstichen ganz ledrig geworden war, betrachtete im matten Licht, das aus dem Flur ins Zimmer fiel, die Narben, die die Rattanranken auf ihrem Körper hinterlassen hatten, die roten Striemen auf der Schulter, für die Stan Farrells Bombe verantwortlich war.
    »Du brauchst einfach Zeit, um das, was du erlebt hast, zu verarbeiten«, beruhigte sie Mabel.
    Wenn ihre Tochter verzweifelt war, dann war es ihre Aufgabe, sie wieder aufzurichten. Sie sah zu, wie ihr Kind wieder einschlief, achtete darauf, sie nicht im Schlaf zu stören, beobachtete ihr Gesicht und lauschte dem Knarren des Bettes, während Mabel träumte, wie Männer bei lebendigem Leib verbrannten.
    Lu See knallte den Hörer auf die Gabel. Die letzte Stunde hatte sie damit zugebracht, mit der chinesischen

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