Das Haus der tausend Blueten
und ihre Füße nicht ständig aus klebrigem Matsch ziehen zu müssen. Sie fand es auch merkwürdig, dass sie nicht den ganzen Tag einen Tornister mit sich herumschleppen musste. Vor allem aber kam sie sich ohne ihr Gewehr schutzlos vor.
Ich bin nicht mehr der Mensch, der ich einmal war, sagte sie sich.
Sie verstand noch immer nicht, warum ausgerechnet sie überlebt hatte. Alle anderen ihrer Einheit waren tot.
Warum stehe ich hier, zwar voller Narben, aber am Leben, wo all die anderen im Dschungel verfaulen?
Sie hatte das Gefühl, keinen Bezug mehr zu den Menschen in ihrer Umgebung zu haben, und je mehr sie versuchte, diesen Bezug zu schaffen, desto schwieriger wurde es für sie. Diese Beklemmung hielt nun schon eine ganze Weile an, eines Nachmittags änderte sich das alles jedoch auf einen Schlag. Sie stand gerade im Eingang des Restaurants und sah ihre Mutter hinter dem Tresen stehen, entdeckte auch ihre Großmutter, die sich an den Handflächen kratzte, und Old Fishlips, der sich wieder einmal lautstark über seine Suppe beschwerte. Es war eine Szene, die sie schon tausendmal gesehen hatte, und dennoch wurde sie ihr erst in diesem Moment in all ihrer großartigen Vielschichtigkeit bewusst. Sie sah ihre Familie, und diese Familie war ein Symbol für alles, was auf der Welt wichtig und kostbar war.
An ebenjenem Nachmittag erzählte sie ihrer Mutter und Old Fishlips von der Explosion. Sie versuchte ihnen zu erklären, wie verzweifelt und verwirrt sie gewesen war, als ihre gesamte Einheit getötet wurde, und dass sie danach Wochen gebraucht hatte, um allein aus dem Dschungel herauszufinden.
»Dann ist Bong also tot«, stellte Fishlips ruhig fest.
Mabel nickte kaum wahrnehmbar. Sie saß da, die Hände im Schoß wie ein kleines Kind. Es kam ihr so vor, als könnte sie Bongs dichte Haare noch immer unter ihren Fingern spüren.
Lu See ging in die Küche, um Tee für alle zu machen. Als sie zurückkam, sagte sie: »Es tut mir sehr leid, Mr Foo.«
»Ich habe es schon die ganze Zeit vermutet, aber ich habe darauf gewartet, dass du es mir sagst. Ich habe ihn aufgezogen. Er war ein guter Junge.«
Mabel starrte ihre Hände in ihrem Schoß an und nickte wieder.
»Wie ist er gestorben?«, fragte der alte Mann, dessen Augen plötzlich mit kleinen roten Äderchen durchzogen waren.
Als Mabel den Funkempfänger erwähnte und den seltsamen Ton, den er von sich gegeben hatte, wollte Lu See Genaueres wissen: wo das Gerät hergekommen sei und wie sich das Geräusch angehört habe. Mabel sah sie irritiert an, versuchte sich dann zu erinnern. Ihr Gedächtnis war so lückenhaft, dass ihr das Aufspüren der Erinnerung wie die Suche nach einer Nadel im Heuhaufen vorkam. Schließlich stieß sie aber doch auf einen Splitter glänzenden Metalls.
Sie schwieg noch einen Augenblick, dann sagte sie: »Der Funkempfänger. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, bin ich mir sicher, dass es eine Falle war. Die wollten, dass wir alle sterben.«
Bei Mabels Worte gefror Lu Sees Blut in den Adern.
Am folgenden Nachmittag kam Stan Farrell ins Restaurant, um Mabel einige Fotos zu zeigen und sie zu bitten, die Personen darauf zu identifizieren.
Lu See trat auf ihn zu und schlug ihm unvermittelt ins Gesicht. Stan hielt die Hände hoch und stammelte immer wieder, dass er das nicht gewollt habe. Mabel hörte die Worte »Funkempfänger«, »Verrat« und »Schwarzköpfiges Schaf«, verstand aber nicht, worum es ging. Sie wollte es auch gar nicht mehr verstehen. Was geschehen ist, ist geschehen, sagte sie sich. Nichts und niemand wird Bong wieder zum Leben erwecken. Also ging sie in ihr Zimmer, damit sie Lu See nicht mehr schreien hörte, warf sich auf ihr Bett und vergrub ihr Gesicht in den Kissen.
Später kam Lu See zu ihr, um ihr zu sagen, dass sie nie wieder ein Wort mit Stan Farrell sprechen solle.
Mabel fragte nicht nach dem Grund. Sie konzentrierte sich stattdessen darauf, ihr Leben wieder in geordnete Bahnen zu lenken. Aber dies fiel ihr schwer. Es war für sie vor allem kaum zu ertragen, dass Bong nicht mehr bei ihr war.
Die Geräusche der Nacht waren hier völlig anders als draußen im Dschungel. Sie vermisste das beständige Brummen der Insekten, das irgendwann alle Gedanken auslöschte. Die Luft fühlte sich irgendwie dünner an. Der schwere Ge ruch von nasser Erde und Regen, von verrottendem Holz und Verfall, er war verschwunden. Ihr fiel auch auf, dass sich die Menschen in ihrer Umgebung anders benahmen als früher. Wenn sie die Macao
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