Das Haus der tausend Blueten
Botschaft zu telefonieren. Sie hatte mit dem für die Einreisegenehmigungen zuständigen Beamten gesprochen. Und wieder war sie gegen eine Mauer gerannt.
»Warum müssen sie es einem so schwer machen? Ich komme mir vor, als würde ich den Mount Everest besteigen.«
Tags zuvor hatte Pietro seinen chinesischen Kollegen angerufen, um sich für sie zu verbürgen, nur um die Auskunft zu erhalten, dass »vorübergehend« keine Einreisegenehmi gungen nach Tibet erteilt würden. Lu See hatte das Gefühl, als würde jedes Mal, wenn sie eine bürokratische Hürde überwunden hatte, schon die nächste auf sie warten.
Verärgert stellte sie ihre Teetasse ab und sah irritiert dabei zu, wie Mabel jeden Bissen Reis mit den Fingern zu einem Bällchen formte, das sie sich dann in den Mund schob.
»Es gibt in diesem Haus auch Gabeln und Löffel«, bemerkte sie.
Als Lu See nach dem Besteck griff, fiel ihr ein Mann auf, der draußen neben dem Fünf-Fuß-Weg stand.
Mabel kaute langsam. »Es ist schon eine Weile her, dass ich eine Gabel in der Hand hatte.« Ihre Stimme klang brüchig.
Lu See beobachtete den Fremden. Sie hatte ihn schon einmal gesehen. Es war der ältere Mann, der am Tung-Wah-Versammlungssaal Tai-Chi geübt hatte. Er war einer der Männer des Maultiers.
Lu See tat so, als würde sie die Malay Mail lesen. Aus dem Augenwinkel heraus beobachtete sie, wie der Mann ein weißes Taschentuch fallen ließ. Dann trat er mit dem rechten Fuß darauf.
Lu See faltete ihre Zeitung zusammen und verließ dann das Restaurant. Als der Mann sich entfernte, folgte sie ihm mit einigem Abstand. Auf den Straßen war es ruhig. Da die Sonne gerade unterging, bereiteten sich die Gläubigen auf das maghrib -Gebet vor. Sie gingen an den maurischen Kuppeln und Minaretten vorbei und bogen in der Nähe des Bahnhofs in eine schmale dunkle Gasse ein.
In diesem Moment sah Lu See das Schwarzköpfige Schaf. Er trug den für ihn typischen weißen Leinenanzug und sah aus, als befände er sich gerade auf dem Weg zur Arbeit. Als sie sich ihm näherte, hielt er kurz inne und sah sich um. Die untergehende Sonne warf einen orangeroten Schein auf sein Gesicht.
Lu See blieb stehen. Im bernsteinfarbenen Zwielicht tauchten plötzlich mehrere bedrohlich aussehende Gestalten aus den dunklen Mauernischen auf und näherten sich dem Mann im Leinenanzug von allen Seiten. Sie hielten Fleischermesser in ihren Händen.
Ein Muezzin in der Ferne verkündete, dass es keinen Gott außer Allah gebe.
Lu See sah zu, wie die Angreifer das Schwarzköpfige Schaf umstellten. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten.
Die Hackmesser beschrieben Halbkreise in der Luft. Lu Sees Hände wanderten wie in Zeitlupe nach oben, um ihre Augen zu bedecken. Sie hörte, wie sich Metall in Fleisch und Knochen grub, und ein Heulen – ein verwirrendes, bellendes Geräusch, wie das eines Kalbes, das man seiner Mutter entreißt.
Lu See ging rückwärts, die Hände weiter vor den Augen, dennoch gelang es ihr nicht, auszublenden, was um sie herum geschah. Im Kreis kriechend versuchte das Schwarzköpfige Schaf sich am Fuß einer Mauer abzustützen. Seine Hände hinterließen rote Spuren auf dem Stein. Blut sickerte aus seinen Schultern. Sein Jackett klebte wie karminrotes Zellophan an seiner Haut. Es sah aus, als trüge er einen leuchtend roten Sattel auf dem Rücken. Sein Körper zitterte. Der Speichel in seinen Mundwinkeln verdichtete sich zu einem milchigen Schaum. Ein seltsames Geräusch kam aus seiner Kehle. Es erinnerte Lu See an das Zischen des dreibeinigen Krokodils.
Sie hatte seinen Tod gewollt. Aber nicht so. Nicht so!
Einer der Angreifer schob sich nach vorn. Er hielt ein Schwert mit einer langen Klinge in der Hand.
In dem Moment, in dem das Schwarzköpfige Schaf den Kopf senkte und dabei den Nacken entblößte, packte der Mann das Schwert mit beiden Händen und holte aus.
Auf der Straße gegenüber strömten die Menschen aus der Moschee. Das Abendgebet war vorbei.
THE MALAY MAIL /Kuala Lumpur. Gestern Abend wurde der enthauptete Leichnam des berüchtigten Gangsters und Sympathisanten der Japaner, Woo Hak-yeung, auch bekannt als das »Schwarzköpfige Schaf«, in einer Gasse in der Nähe der Victory Avenue aufgefunden. Die mutmaßliche Mordwaffe, ein Samurai-Schwert, lag neben der Leiche. Die Polizei vermutet, dass das Motiv für diesen Mord Rache für die Verbrechen ist, die Woo während der japanischen Besatzung begangen hat. Ein Sprecher des CID sagte, dass eine Beteiligung der
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