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Das Haus der tausend Blueten

Das Haus der tausend Blueten

Titel: Das Haus der tausend Blueten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Lees
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Unterwelt nicht ausgeschlossen werden kann. Zuvor hatte es zahlreiche Gerüchte gegeben, dass das Schwarzköpfige Schaf bereits 1945 von der MPAJA getötet worden sei. Wie sich jetzt herausstellte, entbehrten diese Gerüchte jeder Grundlage.
    Als Lu See diese Zeilen las, war sie zunächst nicht in der Lage, sich auch nur zu rühren. Dann aber ließ sie plötzlich die Zeitung fallen, ging zu ihrer Schreibmaschine hinüber und spannte ein Blatt Papier ein. Sie ließ ihre Finger eine Zeit lang auf den Tasten ruhen, dann begann sie zu tippen:
    Lieber Kürbiskopf,
    wir haben den Mistkerl endlich erwischt. Er ist tot.
    Lu See
    Sie zog das Papier aus der Schreibmaschine, faltete es zweimal zusammen, steckte es in einen Umschlag und klebte ihn zu. Es war vorbei, endgültig vorbei. Am liebsten hätte sie laut geschrien und irgendwelche Gegenstände an die Wand geworfen. In jeder ihrer Zellen spürte sie Bitterkeit. Nach ein paar Minuten jedoch, als das Echo ihrer Vergangenheit verhallte, besserte sich ihre Stimmung. Sie holte mehrmals tief Luft und spürte, wie ein Kapitel ihres Lebens endlich ein für alle Mal geschlossen wurde und ein neues begann.
    Als sie an den Frühstückstisch zurückkehrte, aß Mabel schon wieder mit den Fingern.
    »Meine Güte, sieh dir nur deine Hände an! Es sind schon Wochen vergangen, und noch immer hast du Trauerränder unter den Nägeln.«
    Mabel schnitt eine Grimasse. »Egal, wie sehr ich auch schrubbe, der Dreck geht einfach nicht weg.«
    »Sie sollten jedenfalls sauber sein, wenn du anfängst, im Restaurant zu arbeiten.«
    Ein chi chak, der zur Familie der Geckos gehörte, huschte über die Wand.
    »Wer sagt, dass ich im Restaurant arbeiten werde?«
    »Was? Willst du damit etwa sagen, dass du in der Küche bleiben und für den Rest deines Lebens im Küchendunst stehen und Töpfe und Pfannen schrubben willst?«
    »Ich bin Krankenschwester! Ich werde meinen Beruf wieder aufnehmen.«
    Lu Sees Augenbrauen huschten einen Millimeter in die Höhe. Ihre Lippen zuckten voller Stolz. Tapferes Mädchen. Sie hat Männer mit zerfetzten Gliedmaßen und zerrissenen Seelen gesehen, und dennoch will sie ins Krankenhaus zurück.
    »Nun, wenn du wieder arbeiten willst, dann werde ich dich Dr. So vorstellen. Er wird dafür sorgen, dass du deine Ausbildung beenden kannst, und dann kannst du vielleicht Teilzeit in seiner Klinik arbeiten.«
    Männer mit zerfetzten Gliedmaßen … Sind das die Bilder, die sie im Schlaf verfolgen? Sind das die Geister, die hinter Mabels Augenlidern lauern und sie nachts quälen?
    Es gab so vieles, was sie ihre Tochter gern gefragt hätte – Hast du mir vergeben? Wirst du wieder davonlaufen? Liebst du mich noch so wie früher? –, aber jetzt war dafür nicht der richtige Zeitpunkt. Lu See sah Mabel in die Augen.
    »Ich habe so viele Monate lang geglaubt, dass dich der Erdboden verschluckt hätte. Aber jetzt bist du zu Hause.«
    Auf Mabels Gesicht erschien ein mattes Lächeln, das langsam immer strahlender wurde. Dann aber erstarrte sie. »Mama, was ist? Was hast du?«
    Lu See presste die Hände auf ihren Bauch. Ein heftiger Krampf schüttelte sie.
    Mabel streckte die Arme nach ihr aus, ihre Hände verharrten jedoch wie Gebetsfahnen mitten in der Luft.
    Ihre Mutter erbrach Blut.

11
    Losar, das tibetische Neujahrsfest, war für die Nonnen normalerweise ein überaus freudiger Anlass. Wegen des Drucks, den die Chinesen ausübten, verliefen die Festlichkeiten in diesem Jahr jedoch weit weniger ausgelassen.
    Der Tag begann mit dem hell tönenden Klingeln bronzener Becken, und schon bald sammelten sich auf dem Altartisch die Opfergaben aus Wasser, Lotosblumen und Reis. Die Äbtissin hielt eine Rede, in der sie davon sprach, dass die Lotosblume das Symbol der Reinheit sei. »Sie wächst im schlammigsten Wasser«, sagte sie, »ohne dass ihre Schönheit dabei Schaden nimmt. Genauso müsst ihr der Welt erscheinen.«
    Dann gingen alle Nonnen zu der großen Gebetsmühle in der Barkhor Street und wünschten sich für ihr besetztes Land Frieden. Sie waren aufgeregt, klingelten beständig mit ihren Glöckchen und schwenkten dorjes -Zepter.
    In der Stadt trugen einige der Mönche, die gelugpas genannt wurden, spitze gelbe Mützen, andere trugen die roten Hauben der Gelehrten. Sie schwenkten Fahnen, und bald begann wie auf ein Stichwort ein Maskentanz. Tänzer mit schwarzen federgeschmückten Hüten und grotesken Masken stellten Szenen aus religiösen Geschichten dar. Sie handelten davon, dass

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