Das Haus der tausend Blueten
außerdem das Siegel von Lhasa fehlte. Die Chinesen sagten jedoch nur, dass ihnen das egal sei.«
»Aber das ist unrecht«, empörte sich Sum Sum, deren Gesicht vor Zorn glühte. Sie war so gereizt und wütend wie ein Himalaja-Stachelschwein. Tormam hingegen brachte kein Wort heraus, sie wirkte wie betäubt.
Sie gingen durch einen schmalen Flur und betraten einen von Kerzen erhellten Raum, der mit Fresken der bodhisattva, dem weiblich-friedvollen Symbol erleuchteter Weisheit, ausgeschmückt war. Auf den rot gestrichenen Balken prangten Lotosrosetten. Mehrere Nonnen saßen dort und meditierten. Im matten Licht sahen ihre Köpfe, die braun und kahl waren, wie übergroße Kartoffeln aus.
Jampa senkte ihre Stimme: »Lhasa erklärte den Vertrag gemäß einer Regel, die die Wiener Konvention genannt wird, für null und nichtig. Und was tun die Chinesen daraufhin? Sie marschieren einfach ein.«
Sie zog ein Ledersäckchen, das sie in ihrem Ärmel verborgen hatte, heraus und nahm eine Prise Schnupftabak.
»All das ist schon ein paar Jahre her. Aber jetzt sind Unruhen in Kham und Amdo ausgebrochen. Deshalb verriegeln die Chinesen die Tür zum Land des Schnees. Sie untersagen alle Feste und üben Druck auf die Mönche aus.«
»Was wird mit uns geschehen?«, fragte Tormam ängstlich.
Die Kerzen aus Yakbutter zischten. In kleinen Weihrauchfässern brannten Wacholder und Gebetszettel. Jampa nahm eine weitere Prise Schnupftabak und massierte dann ihre Nasenwurzel.
»Die Lage wird für uns alle schlimmer werden. Die Äbtissin sagt, dass die kommunistischen Eindringlinge unsere Kultur auslöschen wollen.«
»Glaubst du das wirklich?«, fragte Sum Sum zweifelnd. Sie konnte nicht glauben, dass dies der Kommunismus war, für den sich Adrian in Cambridge so vehement eingesetzt hatte.
»Wenn du erst einmal so alt bist wie ich, wirst du den Chinesen ebenfalls alles zutrauen. Ihre Arroganz kennt keine Grenzen.«
Sum Sum stampfte mit dem Fuß auf. »Wenn ich eine Bratpfanne hätte, dann würde ich sie diesen Kommunisten um die Ohren hauen!«
»In den östlichen Landesteilen sind bereits offene Kämpfe ausgebrochen.« Jampa beugte sich verschwörerisch zu ihnen herüber. »Man munkelt sogar, dass die Chinesen unseren jungen Gottkönig entführen wollen.«
Die Frauen holten erschrocken Luft. Sie waren entsetzt, solche Worte laut ausgesprochen zu hören. Ihre Finger erstarrten, als hätte eine plötzliche Eiseskälte sie steif werden lassen.
» Ndug’re. Kommt jetzt«, sagte Jampa. »Lasst uns meditieren.«
Die Gebetshallenleiterin schloss die Augen und ließ einen ruhigen und friedlichen Ausdruck auf ihrem Gesicht erscheinen. Als auch Sum Sum ihre Augen schloss, sah sie die roten Plakate vor sich, die man in der Stadt an die Häuser geklebt hatte – Plakate, die das Gesicht jenes Mannes zeigten, den sie alle nur den Teufel nannten: Mao Tse-tung.
10
Sie hielten einander in den Armen, hielten sich so fest sie konnten. Allein Mabels Berührung zu spüren hatte Lu See in Tränen ausbrechen lassen. Sie legte ihre Stirn an die ihrer Tochter.
Sie konnte nicht fassen, wie dürr Mabel geworden war, wie ausgezehrt ihr Gesicht aussah. Sie berührte sie überall, so als wolle sie sich vergewissern, ob sie unversehrt war. Mit ihren verfilzten Haaren voller Ungeziefer und dem vor Dreck starrenden Gesicht hätte sie auch eine Landstreicherin sein können. Schließlich hörte Lu See eine hohe Stimme vom Kellergeschoss heraufrufen.
»Missie? Ich komm Treppe rauf, ist ok?«
»Ja, ja, Ah Fung. Meine Tochter Mabel ist zurückgekommen«, sagte sie und wischte sich die Tränen vom Gesicht. »Sieh mich an, ich heule wie ein Schlosshund.«
Dungeonboy kam aus dem Keller herauf. Er sah verwirrt aus.
»Bitte, wärme den Schweineeintopf von heute Abend auf und koche frischen Reis dazu«, wies Lu See ihn an.
So wie jede andere Mutter folgte sie dem Impuls, ihrer Tochter zuerst einmal etwas zu essen zu machen. Wenn es ihr gelang, ihr Kind zum Essen zu bewegen, dann war vielleicht doch noch nicht alles verloren.
»Und hol saubere Handtücher und Seife. Beeil dich, beeil dich! Und dann möchte ich, dass du ihr Bett beziehst. Meine Tochter ist nach Hause gekommen, und sie wird jetzt bei uns bleiben.«
Er wies mit den Daumen zur Decke. »Naturlik, kein Problem, Missie.«
Mabel war wieder zu Hause. Im Laufe der nächsten Tage geriet Lu See aber immer mehr in Panik. Was war mit den Behörden? Sollte Mabel nicht doch lieber untertauchen? Stand sie auf
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