Das Haus der tausend Blueten
Vergangenheit gereinigt worden. Lu See ließ das Kinn auf die Brust sinken. Eine einzige Träne lief ihr übers Gesicht, trocknete auf ihrer Wange und hinterließ auf ihrer Haut ein leises Kitzeln.
Auf den steinernen Stufen der Kirche blieben Lu See und Mabel stehen.
Mabel beugte sich zu ihrer Mutter herüber und flüsterte ihr ins Ohr: »Ich bin stolz auf dich.«
»Ich musste das vor deiner Großmutter geheim halten«, gab Lu See zu, während sie zum Himmel hinaufblickte. »Andernfalls wäre sie jedes Wochenende hierhergekommen und hätte ihren Senf dazugegeben.«
»Großmutter hat wohl angenommen, dass du öfter einmal in die Kasse gegriffen hast. Sie hat ständig irgendwelche Andeutungen gemacht. Dass du dem Glückspiel verfallen sein könntest oder sogar heimlich zu trinken angefangen hättest.«
Lu See hörte ein Lächeln in der Stimme ihrer Tochter. Sie warf Mabel einen amüsierten Seitenblick zu.
Langes Schweigen folgte.
»Fünfzehn Jahre. Es ist wirklich bewundernswert, dass du niemals aufgegeben hast.«
»Ich musste das hier einfach zu Ende führen. Um meinetwillen. Und auch wegen Zweiter Tante Doris und Tak Ming.«
»Das hört sich allerdings so an, als wäre das für dich zu einer fixen Idee geworden.«
»Diese Kirche ist tatsächlich von großer Bedeutung für mich. Sie birgt wunderbare Erinnerungen. Sie ist Teil unserer Vergangenheit. Und ich hoffe sehr, dass du hier einmal heiraten wirst.«
Mabel lächelte. Sie dachte an ihren Freund, den Chirurgen.
»Ist dir wirklich niemals in den Sinn gekommen, das Handtuch zu werfen?«
»Nein. Niemals. Nach dem Krieg, sogar nachdem wir Juru bereits verlassen hatten, war ich noch immer fest entschlossen, die Orgelpfeifen ersetzen zu lassen.«
»Weil du sie verloren hast.«
»Weil ich Zweiter Tante Doris ein Versprechen gegeben habe. Aber auch, weil sie von einem Mann gestohlen wurden, den ich abgrundtief hasste.« Ihre Stimme war plötzlich tonlos vor Abscheu.
»Der Mann mit dem Muttermal. Onkel Hängebacke hat ihn einmal erwähnt. Damals war ich noch ein Kind. Er war derjenige, der den Schafskopf in die Kiste gelegt hat.«
»Daran erinnerst du dich noch?«
»Natürlich. Ich war damals acht Jahre alt. Das ist nichts, was eine Achtjährige so leicht vergisst.«
»Das tut mir leid.«
»Was hat er dir sonst noch angetan? Warum hast du ihn so sehr gehasst?«
»Er …« Lu See hielt inne. Sie hatte schon zu einer Erklärung angesetzt, unterbrach sich dann aber gerade noch rechtzeitig. Sie schauderte angesichts ihrer Sorglosigkeit.
»Er hat was?«
Lu See sah die Neugier in Mabels Augen. Sie wollte die ganze Geschichte hören.
»Er hat was?«, hakte Mabel ungeduldig nach.
Die Farbe wich aus Lu Sees Gesicht. Sie überlegte, was sie ihrer Tochter sagen sollte. Sollte sie die Wahrheit mit einer Lüge verschleiern? Aber damit bewegte sie sich auf dünnem Eis. Das Gewicht der Wahrheit würde sie einbrechen lassen und sie beide unter Wasser ziehen. Und unter dem Eis lauerte etwas Dunkles und Böses, ein großes Unrecht. Etwas, das dazu bestimmt war, niemals wieder ans Tageslicht gebracht zu werden.
In der Nacht vor ihrer Abreise nach Indien holte Lu See einen Brief aus der Innentasche ihres fischledernen Koffers, den sie dort fast ein Vierteljahrhundert lang aufbewahrt hatte. Es war ein Brief von Sum Sum. Lu See war sich nicht sicher, warum sie ihn nicht schon längst verbrannt hatte. Vielleicht, so dachte sie jetzt, weil es ein Brief war, den Sum Sum mit eigener Hand geschrieben hatte, und weil ihr alles, was Sum Sum betraf, heilig war.
Lu See stellte einen Aschenbecher neben sich auf den Tisch und legte eine Schachtel Streichhölzer bereit. Vorsichtig faltete sie dann das Blatt auseinander und strich es glatt. Die blaue Tinte war verblasst, das Papier vergilbt.
Mein liebe Lu See, mein Schwester, mein Freundin,
ich schreibe dies auf ein Schiff in Hafen von Felixstove. Mein Herz weint.
Ich habe dir mit mein Kind zurücklassen und mit viele unbeantwortet Fragen. Jetzt ist Zeit gekommen, dass du Wahrheit erfährst. Bald nachdem wir in Cambridge angekommen sind, ist etwas sehr Schlimm passiert. Erinnerst du dir an Tag, an dem ich Kamera verlor? Ich habe dich gesagt, dass ich ein Unfall hatte und sie in Fluss gefallen ist. Nun, ich habe gelogen. Ich habe sie ein Mann gegeben. Es war Mann, welcher ich aus Dschungel kommen sehen habe, als Damm gebrochen. Mann, den du auf Jutlandia gesehen hast. Mann mit Gesichtsmuttermal.
Er war in Cambridge. Er ist mich
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