Das Haus der tausend Blueten
sehen.
Lu See verbeugte sich noch einmal und wies ihren Schutzbrief vor. Der Infanterist warf einen Blick auf das offizielle kaiserliche Siegel und gab ihr die Papiere zurück. Lu See verbeugte sich ein viertes Mal. Als sie sich wieder aufrichtete, war er verschwunden.
In den vergangenen drei Jahren hatte diese kleine Rolle Papier, die Lu See in den Händen hielt, ihre Familie am Leben erhalten und für ihre Sicherheit gesorgt. Der Schutzbrief, ausgestellt von Oberst Tozawa, dem Standortkommandanten, war die Gegenleistung für das »Geschenk« des Familienwagens, eines Bentley Saloon von 1935, gewesen.
Lu See ging auf die Begrenzungsmauer aus Kalkstein zu und dann die Auffahrt hinauf, die nach Tamarind Hill führte, schritt dabei über die auf dem Weg verstreuten Jasminbaumblüten hinweg, dazu bereit, ein weiteres kleines Stück ihrer Seele zu opfern. Die Luft über der Straße flirrte in der Hitze, rings um sie herum zwitscherten die Vögel, und die Zikaden zirpten. Als sie sich dem Wachhäuschen näherte, trat eine Wache aus dem Schatten in die heiße Sonne. Lu See verbeugte sich und zeigte ihre Papiere vor. Der Mann ließ sie passieren.
Oberst Tozawa stand auf der vorderen Veranda des großen Hauses. Er trug einen Kimono aus Satin. Im Schatten hinter ihm sah Lu See einen jungen malaiischen Diener, der in seinen ausgestreckten Armen ein Tablett mit Tee hielt.
Tozawa war kahlköpfig und hatte einen stoppeligen Schnurrbart. Seine Augen waren tiefschwarz, sein Blick war hart und unnachgiebig. Es war Lu See unangenehm, in diese Augen sehen zu müssen, denn sie hatte dann stets das Gefühl, er könnte in ihre Seele blicken und ihre Gedanken lesen. Sie konnte seinen gierigen Blick bereits auf ihrem Körper spüren, als sie an der Reihe von Tamarindenbäumen vorbei zu den Unterkünften der Diener ging.
»Meine liebe Teoh-san«, sagte er und sog die Luft laut zwischen seine Zähnen ein. »Sie benehmen sich wirklich äußerst töricht.«
Lu See verbeugte sich tief. »Ich entschuldige mich, falls ich Sie auf irgendeine Art beleidigt haben sollte.«
»Es ist töricht von Ihnen, in dieser Hitze ohne Sonnenschutz unterwegs zu sein.«
Lu See wandte den Blick ab. Natürlich hatte er recht. Sie wollte und würde das nur nicht zugeben. »Vielen Dank für Ihre Sorge, o-Oberst-sama, aber ich bin die Sonne gewöhnt.«
»In Zukunft nehmen Sie bitte einen Sonnenschirm mit.«
»Hai, jawohl, o-Oberst-sama.«
»Außerdem wünsche ich, dass Sie diese Haarklammern tragen, wenn Sie, nachdem das Abendessen serviert ist, ins Speisezimmer kommen.« Er drückte ihr mehrere verzierte Haarspangen in die Hand. »Ich will nicht, dass Haare in mein Essen fallen. Haben Sie mich verstanden?«
»Hai, o-Oberst-sama.«
Sein Blick fiel auf die Dose mit Zucker, die sie unter dem Arm trug. »Ich freue mich schon sehr auf Ihren englischen Brotpudding. Ich werde zur üblichen Zeit zu Abend essen. Bitte geben Sie die Quittung für die Lebensmittel meinem Adjutanten. Er wird Ihnen Ihre Auslagen erstatten.«
Noch einmal verbeugte sie sich tief, die Hände hatte sie dabei flach auf ihre Oberschenkel gelegt. Sie wartete, bis er gegangen war, bevor sie sich wieder aufrichtete.
Die kaiserliche Armee hatte Tamarind Hill 1942 beschlagnahmt. Zuerst war geplant gewesen, das Gebäude zu einem Erholungsheim für verwundete Hikotai-Piloten zu machen, dann aber hatte Oberst Tozawa das Anwesen besichtigt und es für sich selbst beansprucht. Es ärgerte sie, dass jetzt er in ihrem Haus residierte, aber wenigstens behandelte der Oberst ihr Zuhause mit Respekt. Mit seiner Heerschar von Dienern war auch sichergestellt, dass alle Räume in Ordnung gehalten und der Garten gepflegt wurde.
Lu See war eingestellt worden, um für Oberst Tozawa zu kochen. Ursprünglich hatte Ah Gwei, der Koch der Teohs, die Mahlzeiten für den Oberst zubereitet. Ah Gwei war jedoch im Sommer 1943 geköpft worden, weil er im betrunkenen Zustand einen Seicho-Repräsentanten beschimpft und angespuckt hatte. Da Tozawa niemanden hatte, an den er sich sonst hätte wenden können, ließ er Lu See kommen, damit sie diese Aufgabe übernahm. Das erste Gericht, das sie für ihn gekocht hatte, war ein Nudelrezept aus Sum Sums kleinem blauen Schreibheft gewesen. Es hatte ihm nicht geschmeckt.
»Das ist nicht britisch!«, hatte er geschrien. »Im Katei-no-Topo- Magazin steht nirgendwo, dass Nudeln britisch sind.«
Von da an bereitete Lu See ausschließlich Speisen zu, die sie in Mrs Beeton’s Book
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